Im Original sind die Tafeln vielleicht Handteller-groß. Die Keilschrift ist dementsprechend winzig. Manche Zeichen erinnern an Fischgräten, andere an Rauten oder wild gekreuzte Degen. Einige Zeilen fehlen ganz. Weiter unten auf dem Blatt ist die Keil- in lesbare Schrift übertragen. „Di-til-la“ lautet der Anfang der Hausaufgabe. „Das ist der Text, den ich in Sumerisch bearbeiten muss“, sagt Maria Kauczok. Eine Rechtsurkunde zur Eheschließung. „Dafür brauche ich sicherlich drei Tage, eine eher harte Nuss.“ Echte Knobelarbeit, genau das, was sie reizt. Die ehemalige Grundschullehrerin studiert im fünften Semester Altorientalistik an der Würzburger Universität. Mit 69 Jahren.
„Sie fühlen sich noch zu jung für's Rentnerleben“
Damit ist sie längst eine von vielen. Bundesweit haben im vergangenen Wintersemester laut Statistischem Bundesamt 36 600 Gasthörer Lehrveranstaltungen an Hochschulen besucht – die Hälfte davon war 60 Jahre oder älter. Im Vergleich zu den Vorjahren verzeichnete die Altersgruppe der über 80-Jährigen den größten Zuwachs. Schuld sind der demografische Wandel und der steigende Bildungsgrad der Senioren, sagt Thomas Bertram, Vorsitzender des Sprechrats der Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschaftliche Weiterbildung für Ältere (BAG WiWA). Er geht davon aus, dass es künftig noch mehr Senioren an die Unis ziehe.
„Die Zahlen und das Interesse steigen jährlich an“, bestätigt Barbara Konrad vom Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur- und Ideengeschichte der Uni Würzburg. Als Seniorstudent gilt man an der Julius-Maximilians-Universität automatisch ab 55 Jahren. Im Wintersemester 2017/18 zählte die Hochschule insgesamt 225 Gasthörer, davon 87 Senioren. „Sie haben noch Lust was zu machen, fühlen sich noch zu jung für's Rentnerleben, wollen noch einmal etwas tun“, sagt Konrad.
Geschichte und Philosophie sind bei Senioren am beliebtesten
So ging es auch Maria Kauczok. Die 69-Jährige wurde vor fünf Jahren pensioniert. „Man weiß vorher nicht, wie das ist, wenn man mit dem Berufsleben aufhört“, erinnert sich Kauczok, die Lehrerin an einer Grundschule im Würzburger Stadtteil Heuchelhof war. „Solange man im Beruf steht, gibt es einen Zeitplan, es gibt immer Menschen, die dir sagen, wann du was zu tun hast.“ Mit der Pensionierung änderte sich das. „Jetzt kannst du plötzlich all das machen, was dich interessiert“, sagt Kauczok. Erst dachte sie an Tai-Chi. Schnell wurde ihr klar: Die Uni reizt mehr. „Ich wollte einfach sehen, ob ich das kann.“
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren Ende 2017 rund 17,7 Millionen Menschen in Deutschland 65 oder älter. Das Bild vom geruhsamen, gleichsam langweiligen Ruhestand scheint allerdings auf sie nicht mehr zu passen. Die Senioren sind aktiv. Im Sport, ehrenamtlich, im Internet (jeder Zweite ist mittlerweile online), weiter im Arbeitsleben oder eben an den Hochschulen. Dabei seien die Fächer Geschichte und Philosophie am beliebtesten, heißt es von der BAG WiWA. In Würzburg locken Kunstgeschichte, Astronomie, Germanistik und Theologie die meisten Gasthörer. Und „alles, was mit Gesundheit zu tun hat“, sagt Barbara Konrad.
Karteikarten mit Keilschrift sind immer in der Hosentasche
Maria Kauczok hat sich für Altorientalistik entschieden, lernt Arkadisch, Sumerisch und Hethitisch. Obwohl sie Geschichte in ihrer eigenen Schulzeit kaum begeistern konnte. „Erst als ich selbst unterrichtet habe, ist es mir bewusst geworden, dass das, was die Menschen Jahrhunderte vor uns geleistet und wie sie gelebt haben, Teil von uns selbst ist“, sagt die 69-Jährige. Immer schon sei sie viel gelaufen, mehrere Hundert Kilometer zu Fuß, auf alten Straßen. Etwa von Polen nach Fulda. „Da liegt der Gedanke an die Menschen nahe, durch die diese Wege entstanden sind.“ Deshalb besuchte sie zunächst Vorlesungen der klassischen Archäologie. Aber: „Immer wieder kam der Hinweis auf frühere Kulturen, und so kam ich zur Altorientalistik.“
Die Altorientalistik widmet sich der Erforschung der alten Kulturen Vorderasiens, vom vierten bis ersten Jahrtausend vor Christus. Trocken? „Faszinierend“, sagt Kauczok. Sie besucht vier Seminare, schreibt alle Klausuren und Seminararbeiten mit. Vier Stunden pro Tag übersetzt, lernt und liest sie im Schnitt für die Uni. Oft unterwegs. „Ich spaziere eigentlich jeden Tag und dann habe ich meistens ein Päckchen Karteikarten mit Keilschriftzeichen in der Hosentasche einstecken.“
Für die Enkel ist die Seniorenstudentin weiter einfach die Oma
Als Kauczok an diesem Morgen vor dem Südflügel der Residenz steht, in dem die Räume der Altorientalistik untergebracht sind, kommt eine junge Studentin auf sie zu. Lächelnd, die Laptoptasche über der Schulter. Beide Frauen umarmen sich kurz. „Kommst du nachher mit hoch in die Bibliothek?“ Kauczok nickt. Der Lehrstuhl ist klein, der Kontakt eng. Über Keilschriften wird gemeinsam gebrütet, Hausaufgaben werden zusammen erledigt. Hält das jung?
„Es fällt mir schon schwerer zu lernen“, sagt Kauczok. „Ich glaube, ich muss viel öfter wiederholen als die Jungen.“ Die 69-Jährige schmunzelt. Sie macht es gerne. Ihre Familie unterstützt sie beim Studium, vor allem aber ihre 99-jährige Mutter interessiere sich „mega“ für alles Alte und schaue sich jede Keilschrifttafel an. Und die Enkel? „Für die bin ich die Oma und Aus. Und das ist auch gut so“, sagt Kauczok lachend.
Rolf Simon: Mit 75 Jahren auf dem Weg zur Promotion
An der Uni hingegen ist sie die Studentin. Da es in Würzburg keinen speziellen Seniorenstudiengang nur für ältere Menschen gibt, teilt sie den normalen Hochschulalltag mit ihren jüngeren Kommilitonen. Anders sahen die Studienjahre bei Rolf Simon aus.
Mit dem Eintritt ins Rentenalter begann der ehemalige Sprecher des Bezirks Unterfranken ein Studium an der Fernuni Hagen. Geschichte und Politikwissenschaft, weil „ich mich immer schon dafür interessiert habe“, sagt der 75-Jährige. Gelernt wurde entweder zuhause oder bei Seminaren in wechselnden Städten wie etwa Berlin, München oder Hamburg. Im Schnitt waren seine Kommilitonen mit 40 bis 50 Jahren älter als der klassische Unistudent und als so mancher Dozent. Trotzdem: Besserwisserei, gerade im Fach Geschichte, sei unpassend. „Zeitzeugen sind nervig“, sagt Simon. 2013 gelang ihm der Masterabschluss, jetzt folgt die Promotion.
Für Maria Kauczok ist das kein Ziel. Einen Abschluss will sie, wie die meisten Seniorenstudenten, nicht machen. Flink steckt ihren Collegeblock mit den Keilschrift-Kopien zurück in die Umhängetasche. Vor Seminarbeginn wartet noch viel Arbeit. Warum sie sich die aufhalst, freiwillig? Für die 69-Jährige ist das schwer in Worte zu fassen. Es geht ihr nicht um Selbstbestätigung, nicht um Anerkennung anderer. Die Faszination des Alten reicht für sie weit über den Hörsaal hinaus. Im Sommer reiste sie etwa nach Kappadokien, um zu „sehen, wie die Landschaft aussieht, in der die Menschen dort gelebt haben“. Ihr Traum: „Einmal eine uneditierte Keilschrifttafel in der Hand zu haben und es zu schaffen, diese zu übersetzen“. Echte Knobelarbeit. Aber genau das macht ihr Spaß.
Ob da jetzt einer oder eine mehr rumsitzt, spielt doch keine Rolle. Sie sind doch bloß Gäste. Und: sie sind da gut aufgehoben und haben keine Zeit und Bock bei jeder Demo mitzulaufen. Und die meisten wohnen eh in der Nähe. Fazit: Lassen wir ihnen die Freude und den Spaß und die kleinen Anstrengungen: Ohen Fleiß, kein Preis!