
Der Würzburger Kulturpreisträger des Jahres 2015 war, obwohl er ein gebürtiger Würzburger ist, schon länger nicht mehr in seiner Heimatstadt. Auch sein kulturelles und berufliches Wirken hat sich fernab seiner Heimatstadt abgespielt, denn der Romanist Professor Hans-Ulrich Gumbrecht lehrt und arbeitet seit 1989 an der renommierten Stanford University in Kalifornien. 2011 war er zum letzten Mal zu Besuch in Würzburg, um an der Julius-Maximilians-Universität einen Vortrag zu halten. Wir sprachen mit Hans-Ulrich Gumbrecht über Erinnerungen an seine Heimatstadt, seine wissenschaftliche Tätigkeit und was es mit Würzburg zu tun hat, dass er ein berühmter Sporttheoretiker geworden ist.
Hans-Ulrich Gumbrecht: Ich war sehr überrascht. Denn abgesehen von einer Einladung der Universität zu einem Vortrag im Jahr 2011 habe ich weder mit der Uni noch mit der Stadt Würzburg institutionell je zu tun gehabt. Ich hatte wohl tatsächlich mit keiner anderen der klassischen Universitäten so wenig zu tun gehabt wie mit Würzburg.
Hans Ulrich Gumbrecht: Ich bin jetzt 67, und es fühlt sich wie ein schöner Zusatz-Effekt an, wenn man in einer so späten Phase des Lebens von seiner Heimatstadt anerkannt wird. Daraus ergeben sich auch Assoziationen der Erinnerung an Ereignisse in meinem Leben, deren Anfangsimpulse aus Würzburg kamen. In dieser Hinsicht schließt sich im positiven Sinn dann ein Kreis. Und vielleicht ergeben sich so ja auch neue Kontakte. Das dachte ich nach den ersten Kontakten mit dem Kulturreferenten.
Gumbrecht: Mein Laudator wird Horst Bredekamp von der Humboldt-Universität in Berlin sein, einer der großen internationalen Kunsthistoriker heute. Ich dachte zum einen, dass ein Kunsthistoriker gerade für Würzburg ein passender Redner sein wird. Zum zweiten bin ich mit Bredekamp befreundet, man wird ja für so einen Anlass keinen Feind einladen. Mit seinem intellektuellen Stil kann ich mich sehr identifizieren. Ich habe immer den Eindruck bei unseren Gesprächen und bei unserer gemeinsamen Arbeit, dass Bredekamp wirklich gut weiß, worum es mir geht.
Zugleich ist er ein charismatischer Redner, der auf der einen Seite von seinen Interessen – vor allem spätes Mittelalter und frühe Neuzeit – mit Würzburg zu tun hat und auf der anderen Seite so sehr in der Gegenwart steht mit seinen Gedanken und philosophischen Positionen, dass er in Würzburg provozierend wirken kann.
Gumbrecht: Ja, das ist richtig. Jemand hat mal gesagt, dass ich Spezialist fürs Allgemeine bin. Ich habe nun über 40 Jahre lang an verschiedenen Universitäten unterrichtet – und zugleich mag ich den Ausdruck „Forschung“ für die Geisteswissenschaften nicht verwenden, obwohl ich doch seit 40 Jahren auch forsche. Ich sage lieber „Kontemplation“.
Wenn jemand nicht ein absolut langweiliger Typ ist, dann hat er im Lauf einer so langen Zeit schon wegen der verschiedenen Studentengenerationen auch auf verschiedenen Gebieten gearbeitet. Hinzu kommt, dass ich Romanist bin und das bedeutet ja schon vor der Struktur des Faches her Pluralität.
Gumbrecht: Ich habe angefangen mit französischer Literaturgeschichte, aber mittlerweile sind auch die spanische, portugiesische, italienische und sogar die amerikanische und die deutsche Kultur für mich wichtig geworden. Außerdem arbeite ich intensiv historisch. Das heißt, die Alterität, das Anderssein der Vergangenheit, fasziniert mich sehr. Wenn Sie mich hingegen nach der Gegenwartsliteratur fragen, so weiß ich eigentlich weniger als der normal gebildete Zahnarzt.
Gumbrecht: Nicht weil ich die Gegenwartsliteratur oder Gegenwartskultur nicht für interessant halte, sondern weil ich einfach primär historisch arbeite. Neben meiner Professur in Stanford an der Uni, die für mich im Zentrum steht, versuche ich mich als öffentlicher Intellektueller. Als solcher hat man stark konturierte Meinungen zu vielen Fragen und Themen.
Auch daraus ergibt sich Pluralität. Und schließlich bin ich wohl ungeduldig und möchte immer wieder mit etwas Neuem anfangen. Meine Dissertation befasste sich mit dem Mittelalter, meine Habilitation mit dem späten 18. Jahrhundert und ich könnte mir für mich kein Leben vorstellen, in dem ich mich allein auf diese beiden Epochen konzentriert hätte.
Gumbrecht: Ja – und das ist wohl normal. Einmal mag ich den Eindruck, dass man sich spät im Leben an solche Wurzeln und primären Impulse erinnert. Zum zweiten bekomme ich dafür erstaunlich oft positive Reaktionen. Leute schreiben mir, die mögen es, wenn ich mit einem Thema, das am Ende immer in der Gegenwart landet, mit eigenen Jugenderinnerungen beginne. Und wenn ich in der ersten Person Singular auf die ersten 20 Jahre meines Lebens zurückblicke, dann bin ich eben notwendig in Würzburg.
Gumbrecht: Das sind nicht nur positive Erinnerungen. Eher glaube ich, dass meine Kindheit und Jugend in Würzburg in geradezu emblematischer Weise typisch waren für die erste und zweite deutsche Nachkriegsphase. Das wäre in Tübingen, Marburg oder Göttingen nicht sehr anders gewesen.
Gumbrecht: Ich habe zum Beispiel über die Besatzungskinder von damals im Hinblick auf das gegenwärtige politische und kulturelle Problem der Migrantenströme geredet. Damit wollte ich daran erinnern, dass als „Sudetendeutsche“ Millionen Menschen aus Osteuropa in die Bundesrepublik gekommen sind – und dies in Bayern während einer massiven Präsenz der amerikanischen Besatzung. 1954, als ich in die Schule kam, haben gewiss 20 000 oder mehr Menschen in Würzburg gelebt, die in keinem Sinn „Würzburger“ waren und in einem sehr konkreten Sinn „Migranten“.
Gumbrecht: Auf der Sieboldshöhe lebten fast ausschließlich Sudetendeutsche. Und deren Kinder redeten in der Schule mit einem anderen Akzent. Es gab also eine Herausforderung und ein Problem von Migrantenströmen in jener Nachkriegssituation, die demografisch viel massiver als heute – und die das Land ohne Aufhebens sehr gut und sehr erfolgreich absorbiert hat. Das ist ein positives Element einer Vergangenheit, die ja in ihren politischen Koordinaten im Vergleich zu heute sehr engstirnig wirkt.
Gumbrecht: Ja, ganz sicher. Das Siebold-Gymnasium und viele der Lehrer, die ich dort hatte, waren für mich sehr wichtig. Das habe ich nie vergessen. Ein Lehrer, der heute noch lebt, Josef Fick, hat mich entscheidend geprägt. Studienräte haben sich damals strukturell gesehen wie Universitätsprofessoren verstanden haben. Sie haben auf der einen Seite gelehrt, hatten aber gleichzeitig auch zumindest kleine Forschungsgebiete.
Gumbrecht: Zwei Beispiele: Ich hatte einen Deutschlehrer, Eduard Eisenmeier. der weltweit führender Spezialist für Adalbert-Stifter-Bibliografien war. Und mit Kurt Fina hatte ich einen Latein- und Deutschlehrer in der ersten Klasse, der später in Eichstätt ein bis heute einflussreicher Professor für Pädagogik wurde. Seine Gedanken und Antworten auf die Frage, wie man Zehn- oder Elfjährigen die römische Kultur nahe bringen könnte, haben zu einer relevanten wissenschaftlichen Reflexion geführt. Zu wissen, dass viele unserer Lehrer einen Interessenhorizont hatten, der über das hinaus ging, was sie täglich unterrichten, hat mir einen ersten Eindruck von der Weite des „Geisteslebens“ gegeben.
Gumbrecht: Eigentlich nur wenige. Ein Mitschüler verschickt regelmäßig Einladungen zu einem Klassenstammtisch, die ich auch stets bekomme. Aber es ist für mich natürlich ziemlich schwierig, zu einem Klassenstammtisch nach Würzburg zu kommen. Aber immerhin bin ich so auf dem Laufenden und weiß, was meine ehemaligen Klassenkameraden mit ihrem Leben anfangen. Mit dem vorhin erwähnten Josef Fick habe ich Kontakt über seine Tochter, die eine sehr prominente Germanistin in Aachen ist, Kontakt. Er schreibt mir ab und zu auch Briefe.
Gumbrecht: Mein Vater hat bei den Würzburger Kickers gespielt. Wohl nicht so viel und so entscheidend wie er mir gerne erzählte, aber er hatte mit den zentralen Kickers-Gestalten jener Zeit, wie beispielsweise Schorschi Schühlein, Kontakt. Und ich selbst hatte Walter Menth als Biologielehrer, der ein charismatischer Mittelstürmer bei den Kickers gewesen sein muss. Ich bin, als wir noch in der Sanderau wohnten, jeden zweiten Sonntag in der Ecke auf dem Kickersplatz gestanden, die man „Feldherrnhügel“ nannte, und habe die Spiele in der Bayernliga verfolgt.
Gumbrecht: Ja. Und drei- bis viermal pro Jahr bin ich mit meinem Vater nach Nürnberg in den Zabo oder nach Stuttgart zu Oberligaspielen gefahren. Das war wohl der primäre Impuls meines Sportinteresses.
Gumbrecht: Selbst war ich nie ein guter Sportler. Ich habe beim Schwimmverein Wasserball gespielt, aber zu früh, um an den großen Erfolgen beteiligt gewesen zu sein. Allerdings habe ich den einzigen Roman meines Lebens, er heißt „Der Neue“, für die SV 05-Vereinszeitung geschrieben. So war ich ein wenig eingetaucht in die Würzburger Sportwelt, aber eben mehr als Zuschauer denn als aktiver Sportler. Das hat dazu geführt, dass ich heute existenziell nicht auskomme, ohne mindestens einmal, besser zwei- oder dreimal, im Monat bei einem Sportereignis live dabei zu sein. Irgendwann hat mich das dann auch systematisch zu interessieren begonnen.
Gumbrecht: Ich habe mich gefragt, woher diese Faszination am Sport denn wohl kommen könnte. Als Antwort für mich selbst habe ich 2005 das Buch „In Praise of Athletic Beauty“ geschrieben, das in der deutschen Fassung „Lob des Sports“ heißt. Es ist eine Ästhetik des Sports und, was die Verkaufszahlen angeht, mein erfolgreichstes Buch. Alles begann an dieser Ecke des Kickersplatzes.
Vortrag und Preisverleihung
Der Romanist und Philosoph Hans Ulrich Gumbrecht wird in diesem Jahr mit dem Kulturpreis der Stadt Würzburg ausgezeichnet. Der gebürtige Würzburger, Jahrgang 1948, ist einer der renommiertesten und bekanntesten Literatur- und Geisteswissenschaftler Deutschlands. Er lehrt und lebt seit vielen Jahren in den USA. In seinen Veröffentlichungen bezieht er sich immer wieder auch auf seine fränkischen Wurzeln. Gumbrecht schreibt regelmäßig für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und für „Merkur – Zeitschrift für europäisches Denken“. Seine Bücher wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt.
Vor der Preisverleihung im Ratssaal am Dienstag, 8. Dezember, hält der Romanist um 16 Uhr einen öffentlichen Vortrag: „Was soll man mit der Vergangenheit anfangen? Eine Diagnose der Gegenwart“. Der Eintritt ist frei.
Im Anschluss erhält Gumbrecht um 18 Uhr den Kulturpreis der Stadt.