Was für ein Schatz. Fast 3,2 Millionen Bilddokumente hat die Deutsche Fotothek in ihrem Bestand. Gemälde, Grafiken, Karten, Architekturzeichnungen, vor allem aber Fotos, Fotos, Fotos – ein einziges großes Universalarchiv der Kulturgeschichte ist da in Dresden versammelt. Rund 1,8 Millionen Bilder aus den Beständen der Fotothek und ihrer 86 Partnerinstitutionen sind digitalisiert – weltweit kann man im Online-Archiv der Fotothek recherchieren und suchen. Nach Fotograf, nach Aufnahmedatum, nach Personen oder Motiv, nach Stadt oder Land.
Zum außergewöhnlichen Sammlungsbestand zählen außergewöhnlich viele Stadtansichten und Gebäudeaufnahmen von und aus Dresden – die frühesten schon aus der Zeit um 1850. Das hängt mit dem Sitz der Fotothek zusammen – und zum Beispiel auch mit Hermann Krone, der im 19. Jahrhundert als Fotograf und Wissenschaftler in Dresden tätig war und sehr früh Gebäude und den gesamten Stadtraum dokumentierte. Für eben diesen Fundus an Stadt-Fotos interessieren sich jetzt die Würzburger Wissenschaftler Dr. Florian Niebling und Professor Stefan Bürger: Mit Kollegen aus Dresden wollen sie in einem vierjährigen Forschungsprojekt die Bilder räumlich und zeitlich verorten – und für Forscher und andere Interessenten nutzbar machen.
Das Besondere: Niebling ist Informatiker am Lehrstuhl für „Mensch-Computer-Interaktion“, Bürger ist Kunsthistoriker mit Schwerpunkt auf Baukunst. Ihr gemeinsames Projekt verbindet zwei Perspektiven: Die geschichtswissenschaftliche, die beispielsweise danach fragt, wie sich die Stadt verändert hat, wie Menschen früher die Stadt wahrnahmen und wie sich mit der Architektur auch Ansichten wandelten und wandeln. Und die Seite der Informatik, die mit modernen Methoden und Werkzeugen den Anwendern Daten und Informationen möglichst gut aufbereiten und anbieten will.
„HistStadt4D – Multimodale Zugänge zu historischen Bildrepositorien“, so ist der offizielle Name des Vorhabens, das das Bundesforschungsministerium mit zwei Millionen Euro fördert. Unwissenschaftlich könnte man zu „Repositorium“ auch Lager sagen. Es ist ein verwaltetes Verzeichnis zur Speicherung und Beschreibung von digitalen Objekten für ein digitales Archiv – also der Tausenden von Dresden-Bildern, die die Informatiker und Kunsthistoriker in 3D-Modellen aufbereiten wollen.
Wer heute bei der Deutschen Fotothek nach Bildern forscht, tut dies auf der Internetseite mit Hilfe der Freitextsuche. Eine Anfrage an die Datenbank also im klassischen Stil. Ob er damit die passenden, richtigen Treffer erhalte, hänge sehr von der Qualität der Schlagworte und Metadaten ab, mit denen die Fotos erfasst sind, sagt Niebling. Mal fehlt das Aufnahmejahr, mal der Name des Fotografen, mal der genaue Standort, mal ist das Objekt selbst nicht benannt. Je weniger erforscht das Foto, desto leichter fällt es durch das Suchraster.
Diese Bilder wollen Niebling und seine Doktoranden für eine räumliche Suche aufbereiten. Oder, in der Sprache des Informatikers: „Wir wollen die Fotos in einem Stadtmodell automatisch dreidimensional verorten.“ Der Nutzer der Fotothek soll virtuell durch ein Modell Dresdens spazieren können – und sich genau die Bilder zeigen lassen, die für ihren jeweiligen Standort im Archiv gespeichert sind. Erweitert um die vierte Dimension, die Zeit, können so auch die Entwicklungen von Straßen und Gebäuden abgebildet werden.
11 143 Treffer verzeichnet die Datenbank der Fotothek allein unter dem Stichwort „Dresden-Altstadt“. Von vielen Gebäuden existieren Hunderte Aufnahmen – aus unterschiedlichen Jahren und verschiedenen Blickwinkeln. Für die Wissenschaftler ist diese Datenmenge ein einzigartiger Schatz. Die Informatiker wollen mit einer eigens entwickelten Software aus den zweidimensionalen Fotos ein dreidimensionales Modell erstellen. Erste Tests am Zwinger mit einer heutigen Kamera hätten gezeigt, dass 50 Aufnahmen, halbkreisförmig um ein Objekt herum aufgenommen, ausreichen, um ein detailtreues 3D-Modell zu erstellen.
Ob der historische „Bilderschatz“ aber tatsächlich ausreicht, um möglichst viele Dresdner Schauplätze digital dreidimensional betrachtbar zu machen? „Alte Fotografien sind blass und kontrastarm, oft auch unscharf und verwaschen“, sagt Niebling. Das mache die Rekonstruktion für die Software schwierig.
Und um die Fotografien für den virtuellen Spaziergang durch Stadtraum und Zeit nutzen zu können, müssen sie erst einmal auf dem Stadtplan „verortet“ werden. Schon das ist nicht leicht. Denn wann und von wo genau ist ein Bild aufgenommen? Wo stand einst der Fotograf, als er auf den Auslöser drückte? „Wir sind darauf angewiesen, von Gebäuden möglichst viele Ansichten aus unterschiedlichen Perspektiven zu haben“, sagt Niebling, der drei Jahre lang in Dresden forschte. Meist aber gibt es nur Aufnahmen der Schauseite, die Perspektive, die jeder wählt. Postkartenmotive eben.
Für die Kunsthistoriker ist die Stadt an der Elbe nicht zuletzt interessant, weil hier städtebaulich viel passiert ist. Rege Bautätigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, sozialistische Stadtplanungen, erneuter Abriss, Wiederaufbauten nach der Wende und Neubau in historischem Stil. Ganze Gebäudezüge an prägnanten Plätzen sind allein seit 1989 neu entstanden. „Die Stadt hat so gewaltige Veränderungen hinter sich“, sagt Bürger. „Da ändern sich nicht nur Fassaden oder Werbeschilder an Häusern.“
Wissen wie Oper, Frauenkirche, Straßenzüge um 1900 ausgesehen haben – „darum allein geht es uns nicht“, sagt der Kunsthistoriker, der selbst über 15 Jahre in Dresden arbeitete und lebte. Mit seiner Kollegin Dr. Kristina Friedrichs interessiert sich Bürger vor allem für die Wechselbeziehungen von Architektur, Mensch und Bild. Oder, wie er sagt, um eine zentrale Frage: „Wie bewegt der Stadtraum die Menschen, und wie bewegt sich das Bild von der Stadt in ihren Köpfen?“
Mit Hilfe der Bilder aus der Riesensammlung der Fotothek wollen die Wissenschaftler diese „Bewegungen“ und Stadtbild-Vorstellungen sichtbar machen – möglichst auf einer Zeitschiene, möglichst im Dreidimensionalen. Dabei konzentrieren sie sich zunächst auf zwei Schauplätze: das Kronentor des Zwingers, von dem allein es mehrere Tausend Aufnahmen gibt. Und die Prager Straße, die prominente Allee, die zwischen 1851 und 1853 als direkte Verbindung zwischen der Altstadt und dem heutigen Hauptbahnhof entstand. Mal dicht, mal weniger dicht bebaut, mal mit hohen Häusern, mal mit flachen: „Da haben wir völlig verschiedene Aufnahmesituationen“, sagt Bürger. Im Moment sucht Kristina Friedrichs nach geeigneten Fotos dafür.
Was das Kronentor angeht, ist Bürger zuversichtlich, dass die Informatiker es dreidimensional rekonstruieren können. Für die Prager Straße, in der heute kein Stein mehr so auf dem anderen steht wie vor 150 Jahren, wird das schon schwierig: „Es könnte sein, dass es nur Aufnahmen von bestimmten Prachtansichten gibt, nicht aber von der gesamten Straße.“ Offen ist, ob sich das Verfahren prinzipiell für größere Räume eignet und wie viele Fotos dafür nötig sind.
Aber auch, wenn es nur Bilder der Schokoladenseiten gibt und unschöne Ecken und Hinterhofszenen ausgeblendet werden: „Das Foto ist Ergebnis eines Verhaltens und gibt Auskunft über Stadtidentitäten“, sagt Bürger. Oft fotografierte Ansichten können das Image einer Stadt bestimmen – und auch die Entwicklung einer Stadt beeinflussen. Der Wiederaufbau der Frauenkirche zwischen 1995 und 2005 sei ein gutes Beispiel: „Die Sichtbarkeit der Kuppel war damals ein oft genanntes Argument. Sie sollte das Bild der Stadt wieder komplettieren.“
Wie oft wird ein bestimmtes Objekt fotografiert? Welcher Standort wird dabei bevorzugt? Welche Absicht steckt dahinter? Solche Fragen hoffen die Kunsthistoriker im Forschungsprojekt beantworten zu können. Obwohl das nicht unbedingt ihr vorrangiges Ziel ist: „Momentan geht es darum, mit Hilfe der Informatik ein Forschungswerkzeug zu entwickeln. Wir sollen dabei sicherstellen, dass dieses Werkzeug am Ende für unsere geisteswissenschaftlichen Zwecke nutzbar und auf andere Anwendungen übertragbar ist.“
Für die Informatiker ist eine verbesserte Suchfunktion nur ein Aspekt. Als Experten für Mensch-Computer-Interaktionen geht es ihnen auch um das Weitergeben von Information: „Heutzutage wird das Wissen über die Stadt und ihre Entwicklung in der Regel über Ausstellungen vermittelt, also im Museum“, sagt Niebling. Mit seiner Gruppe will er einen anderen Weg gehen: Augmented Reality, zu Deutsch „erweiterte Realität“. Die Informatiker wollen die Wissensvermittlung nach draußen verlagern, mobil zugänglich machen, am Ort selbst. Und sie denken auch an den Touristen, der vor dem Zwinger steht.
Mit einer App können irgendwann Dresden-Besucher vielleicht ihr Tablet oder Smartphone vor das Kronentor halten. Und bekommen auf dem Bildschirm historische Ansichten gezeigt und können, am Zeitstrahl entlang, die bauliche Entwicklung des berühmten barocken Bauwerks verfolgen. Florian Niebling formuliert das Ziel so: „Dass ich in der Stadt herumlaufen und mir vor Ort die Geschichte anschauen kann – und die Forschung dahinter.“