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WÜRZBURG
Spitzensportler reden über ihre Krankheit
Bewegende Schilderungen und offene Worte über Schlaganfall und Depression: Main-Post-Redakteurin Andrea Czygan (rechts) und Chefredakteur Michael Reinhard (von links) im Gespräch mit Neurologe Wolfgang Müllges, den ehemaligen Athleten Alexander Leipold und Matthias Behr und Psychiater Mathias Jähnel.
Foto: Patty Varasano | Bewegende Schilderungen und offene Worte über Schlaganfall und Depression: Main-Post-Redakteurin Andrea Czygan (rechts) und Chefredakteur Michael Reinhard (von links) im Gespräch mit Neurologe Wolfgang Müllges, den ...
Alice Natter
 |  aktualisiert: 04.07.2016 03:31 Uhr

Einer der offensten Sätze des Abends kam von Matthias Behr: „Es gibt Momente, wo man Angst hat, definitiv Angst“, sagte der einstige Weltklassefechter aus Tauberbischofsheim über die Sorge vor einem Rückfall, vor einem Wiederkehren der Depression. Einen besonders ehrlichen Satz sprach Professor Wolfgang Müllges, Oberarzt an der Neurologischen Uniklinik in Würzburg: „Wir sind keine Reparaturwerkstatt für Autos, es gibt in der Medizin für nichts, aber gar nichts eine Garantie.“ Und der eindringlichste Appell kam von einer selbst betroffenen Zuhörerin, von Karin Schaffner aus Schweinfurt: „Ich möchte Sie alle auffordern, sich zu bewegen. Sie müssen nicht Sport treiben. Ich sage: Man muss sich bewegen.“

Mittwochabend im Würzburger Vogel Convention Center, die Main-Post hatte zur Mutmacher-Veranstaltung geladen: „Das Schicksal kann uns mal!“ 200 Besucher waren gekommen, es ging um die Volkskrankheiten Schlaganfall und Depression. Auf dem Podium hatten zwei Persönlichkeiten Platz genommen, die in ihrem Sport durch Höchstleistungen ganz an der Spitze gestanden hatten – und die durch schwere Krankheit ins tiefste Tief stürzten.

Sehr offen erzählte Matthias Behr vom März 2002. Als er, bar jeder Hoffnung und Lebenskraft, auf der Autobahnbrücke stand: „Ja, ich wollte springen. Ich wollte ins Nichts springen.“ Es sei der absolute Höhepunkt seiner Depression gewesen, die, wie er sagt, „schleichend gekommen war“.

Alexander Leipold traf das Schicksal aus dem Nichts: dreifacher Schlaganfall im Alter von 34 Jahren. Der Ringer aus Karlstein am Main las am Mittwoch eindrückliche Passagen aus seinem Buch, in dem er über Niederlage und Erfolge auf der Matte erzählt – und über den härtesten Kampf und größten Sieg seines Lebens.

Krankheiten, die alles verändern

So schleichend eine Depression kommen mag, der Schlaganfall „ist was Plötzliches“, sagt Professor Wolfgang Müllges. Er hat Alexander Leipold behandelt und war mit ihm aufs Podium gekommen. Schlaganfall, das habe mit diffusen Schwindelgefühlen, Unwohlsein, schlechter Artikulation ab und an nichts zu tun: „Das ist sehr akut, sehr dramatisch – plötzlich funktioniert etwas nicht mehr.“

Ein Schlag ins Leben des Betroffenen sind beide Krankheiten. „Das Leben ist danach ein ganz anderes wie vorher“, sagt Dr. Mathias Jähnel, Chefarzt der Psychiatrie, Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie am Krankenhaus Tauberbischofsheim. Bei ihm war Matthias Behr in Behandlung, zu ihm geht der Olympiasieger und dreifache Weltmeister heute noch regelmäßig. Nicht nur für die Betroffenen verändere sich der Alltag komplett, auch für die Angehörigen und das Umfeld: „Die Familie muss sich sortieren. Wie kommt man im häuslichen Leben zurecht mit einem Kranken? Da werden Strukturen komplett auf den Kopf gestellt.“

Wie der Schlaganfall kann Depression jeden treffen, das war ein wichtiger Tenor beim Gespräch über die Schicksale. Noch immer aber, sagt Matthias Behr, sei „die Diagnose Depression nicht gesellschaftsfähig“. Burnout sei zwar keine Diagnose, höre sich in unserer erfolgsorientierten Gesellschaft aber besser an, klinge nach Leistung. „Für eine Depression“, sagt Behr, „schämt man sich.“

Wer besonders gefährdet ist? „Vor allem Menschen, die sehr hilfsbereit sind, leistungsorientiert, sensibel, die kein besonders ausgeprägtes Selbstwertgefühl haben und das durch Leistung ausgleichen“, sagt Psychiater Dr. Mathias Jähnel. Er mahnte eine „stärkere Kultur des Miteinanders“ in der Gesellschaft an. Werte wie Solidarität und Gemeinschaft seien „im Turbokapitalismus verloren gegangen“. Dass heute soziale Strukturen brüchig geworden sind, der gesellschaftliche Halt schwinde und vielen Menschen tragende Beziehungen in Familie oder Freundeskreis fehlen, wirke sich fatal aus. Und eine erschreckende Zahl nannte Jähnel: „80 Prozent der Menschen, die in Deutschland Suizid begehen, hatten eine Depression.“

Beziehung zu Therapeut wichtig

Was Matthias Behr damals am Sprung hinderte: ein Gedankenblitz. Die Vorstellung nämlich, er könne andere Menschen damit in Gefahr bringen. Welche Form der Psychotherapie bei der Behandlung der Depression am besten sei, richtete eine Zuhörerin in der offenen Gesprächsrunde die Frage an Mathias Jähnel. Die Antwort des Psychiaters: Kognitive Verhaltenstherapie und Tiefenpsychologie seien „beide gleich wirksam“.

Entscheidend sei nicht die Form, „sondern ob die Beziehung zwischen Patient und Therapeut stimmt“. Eine Behandlung mit Vitamin B-Präparaten statt Antidepressiva? Jähnel schüttelte den Kopf: „Alles wasserlösliche Vitamine, die es in der Apotheke gibt. Das hilft dem Apotheker, aber nicht Ihnen.“

Schließlich wollte ein Zuhörer von Wolfgang Müllges wissen, ob er ein knappes Jahr nach seinem Schlaganfall eine körperliche Beeinträchtigung „als Souvenir hinnehmen“ müsse. Die Prognose sei, so der Neurologe, „ganz ehrlich, keine tolle“. Aber, machte er doch Mut: „Was besser wird: wie man sich mit dem Defizit arrangiert.“

 
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