
Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn das öffentliche Leben monatelang weitgehend stillsteht? Ist die Corona-Pandemie eine Chance, sich auch als Gesellschaft auf das wirklich Wesentliche zu konzentrieren. Verändert sich etwas strukturell? Der Würzburger Soziologe Professor Andreas Göbel ist skeptisch.
Prof. Andreas Göbel: Absolut. Natürlich ist Corona eine in vielen Facetten darstellbare Ausnahmesituation. Die Krise schlägt sich aber nicht in einer fulminanten Strukturänderung der modernen Gesellschaft nieder. Eigentlich ist alles so, wie bisher auch: Wissenschaft forscht. Die Massenmedien produzieren Nachrichten. Die Politik trifft Entscheidungen.
Göbel: Da bin ich skeptisch. Natürlich erleben wir eine Notsituation, die auf vielen Ebenen spürbar ist – beispielsweise mit Blick auf die Gefährdung von Arbeitsplätzen, eine Retraditionalisierung von Geschlechterrollen und fehlende zwischenmenschliche Interaktion. Das sind immense Einschränkungen und Verwerfungen, aber eben kein kategorialer Bruch. Ich bezweifele deshalb, dass die Coronakrise zu grundlegenden, strukturellen Veränderungen führt.
Göbel: Was immer die moderne Gesellschaft letztlich sein mag, sie ist definitiv kein steuerbares Etwas, bei dem man nur an der richtigen Schraube drehen muss, um sie in eine bestimmte Bahn zu lenken – auch nicht nach einer Pandemie.
Göbel: Weil die moderne Gesellschaft hyperkomplex ist, wobei die Soziologie von funktionaler Differenzierung spricht. Die Gesellschaft ist heute – anders als im Mittelalter –in einzelne Funktionssysteme unterteilt, die jeweils nach ganz eigenen Logiken und abhängig voneinander operieren. Dazu gehören unter anderem Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Recht, Kunst und Religion. In einer solchen differenzierten Gesellschaft kann es, obwohl das kontinuierlich suggeriert wird, keine zentrale, steuernde Instanz geben.
Göbel: Das kann passieren. Natürlich ist es ein wichtiges Gut, dass hochspezialisierte Wissenschaft, die nur von Fachleuten ernsthaft verstanden werden kann, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Trotzdem sollte man sich als Wissenschaftler sehr genau überlegen, ob man in die Massenmedien geht, deren Logik man dann eben unterworfen ist.
Das hat Christian Drosten leidvoll erfahren müssen. Plötzlich gerät er als Virologe in die Schusslinie der Bild-Zeitung und korrigiert das durch ein Spiegel-Interview. Er hüpft also von massenmedialer Aussage zu massenmedialer Aussage und gerät so in eine Mühle, aus der man kaum wieder herauskommt. Gleichzeitig entsteht in der Öffentlichkeit ein viel zu schlichtes, deutlich unterkomplexes Bild von Wissenschaft.

Göbel: Nicht erst in der Coronakrise ist der Eindruck entstanden, Wissenschaft würde fixe Wahrheiten produzieren, auf deren Basis entschieden werden kann. Nur deshalb wurde Christian Drosten, als er vorläufige Ergebnisse und Aussagen getroffen hat, die er später teilweise revidieren musste, so scharf kritisiert. Dabei steht Wissenschaft doch immer unter dem Vorbehalt, dass das früher Wahre sich heute als falsch erweisen kann.
Göbel: Ich will das nicht in Abrede stellen. Und natürlich gibt es gute Reportagen, denen es gelingt, Wissenschaft, als unwahrscheinlich differenziertes und komplexes System, zu erklären. Trotzdem sind Wissenschaft und Medien zwei autonome Systeme, die nach ganz eigenen Logiken operieren. Die Wissenschaft fragt immer aus der Perspektive, ob ein Sachverhalt wahr oder falsch ist. Das ist ein rigider Selektionsmechanismus. Es wird nicht die Schönheit des Virus beobachtet, wie es möglicherweise die Kunst tut. Der Virus wird auch nicht – religiös – als Strafe Gottes betrachtet, sondern immer nur mit Blick auf die Wahrheit.
Die Massenmedien folgen dagegen der Logik des Neuen, des Sensationellen, des Außergewöhnlichen, was Grundlage der Produktion von Information ist. Wenn Massenmedien über das Coronavirus berichten, folgen sie dieser Logik und können sich eben nicht für alle Details der Virologie interessieren. Hochspezialisierte Forschung hat dagegen die Eigenschaft, dass sie gerade nicht für jeden verständlich ist.
Göbel: Da muss man differenzieren, denn innerhalb dieser Bewegung gibt es ganz unterschiedliche Motivlagen: Das reicht von der pauschalen Anti-Establishment-Kritik, in welcher der Staat als Unterdrückungsmaschine adressiert wird, bis hin zur durchaus berechtigten Frage nach der Plausibilität der politischen Maßnahmen.
Göbel: Diese Art von Vereinfachung passiert in den Medien tatsächlich ständig. Bei dem Demonstranten selbst wird die Berichterstattung erkennbar sehr sensibel wahrgenommen und wiederum als Stigmatisierung gesehen. Die Art und Weise, wie massenmediale Berichterstattung ständig moralisiert, also die Guten von den Bösen unterscheidet, tut dem Gesamtklima in keiner Weise gut.
Göbel: Die Gefahr ist eine sich fragmentierende Öffentlichkeit, in der die Bereitschaft des Nachfragens verschwindet und der Diskurs leidet. Anstelle einer übergreifenden Öffentlichkeit entwickeln sich Teilöffentlichkeiten, die sich eigentlich nur noch in sich selbst spiegeln. Doch wir leben in einer Welt, in der nicht immer alles feststeht, in der vieles erörtert werden muss. Dafür braucht es eine gewisse Ambiguitätstoleranz, also die Bereitschaft und Fähigkeit, Uneindeutigkeiten und Komplexität auszuhalten. Die droht derzeit verloren zu gehen.