Die Ausgabe des Würzburger General-Anzeigers vom 8. Mai 1918 bietet an sich nichts Besonderes. Die Anzeigen sind wegen des Papiermangels schon lange klein geworden, die Propagandaanstrengungen der staatlichen Stellen umso größer. Und doch wirft gerade diese Ausgabe mit ihren vielen Todesanzeigen ein bezeichnendes Licht auf die Situation fast vier Jahre nach Kriegsbeginn.
Deutsche Soldaten fallen in großer Zahl. Schon seit Monaten machen Gerüchte über exorbitante Verluste im Westen die Runde. Das stellvertretende Generalkommando in Würzburg fahndet nach den Urhebern und Verbreitern der Gerüchte, die angesichts der vielen Todesanzeigen in den Zeitungen nur zu gern geglaubt werden, und droht mit Gefängnis bis zu einem Jahr.
Im Juli heißt es sogar, der Chef der Obersten Heeresleitung und de facto stärkste Mann im Reich, Paul von Hindenburg, sei ermordet worden. „Die derzeitige Kriegsnervosität zeitigt doch wunderliche Blüten“ schreibt der General-Anzeiger, der durch die unkritische Wiedergabe von Durchhalteparolen, die immer wenige Glauben finden, zur Skepsis in der Bevölkerung beigetragen hat.
Zahlreiche Soldaten verweigern sich dem Wahnsinn an der Front. Einer von ihnen ist der Würzburger Landsturmmann Heinrich Emmerling aus der Wöllergasse. Er hat sich schon wiederholt unerlaubt von der Truppe entfernt; als ihn ein Unteroffizier des Bataillons, dem er angehört, bei einem Heimaturlaub festsetzen will, versucht Emmerling erneut zu fliehen. Der Unteroffizier schießt auf ihn und verletzt ihn so schwer, dass Emmerling kurz darauf im Reservelazarett in der Zentralschule in der Bibrastraße stirbt.
Invaliden und Verletzte auf den Straßen
Auf den Straßen sind inzwischen häufig Kriegsversehrte zu sehen: Männer ohne Arme oder mit Krücken, Soldaten mit kaum verheilten Gesichtsverletzungen, die Passanten erschrocken wegsehen lassen. Viele leiden als Folge eines Kopfschusses an epileptischen Anfällen. In den Lazaretten steigt die Zahl der Verwundeten. Der 31-jährige Soldat Adelbert Gümbel tut Dienst im Reservelazarett Oberrealschule. Er notiert in seinem Tagebuch, dass dort 1917 erst 300 Patienten, 1918 schon doppelt so viele versorgt werden müssen.
Der Ernst der Situation ist jedem klar, aber genauso klar ist, dass jene, die nicht an die Front müssen, nicht 24 Stunden am Tag an den Krieg denken können. Tanzveranstaltungen könnten ein Weg sein, sich abzulenken. Doch das Militär in Würzburg sieht das anders; schon im April 1918 ist die Anordnung ergangen, dass „die Veranstaltung von öffentlichen und geschlossenen Tanzunterhaltungen jeder Art und die Teilnahme an solchen“ verboten ist. Zuwiderhandlungen werden mit Gefängnis bis zu einem Jahr, beim Vorliegen mildernder Umstände mit einer Geldstrafe bis zu 1500 Mark bestraft.
Unterhaltung muss freilich auch im Krieg sein, nur hat sie jetzt ausschließlich der Aufrechterhaltung der Kampfmoral zu dienen. Am 14. Juni 1918 gibt der beliebte Dirigent Hans Sauter mit seiner Neuner-Kapelle im Huttenschen Garten ein Konzert. Die Musiker, die lang im von bayerischen Truppen besetzten Comines an der belgisch-französischen Grenze gespielt haben, begeistern laut Zeitungsbericht das Publikum.
„Schneidiger Marsch“ über Belagerung
Besonders viel Applaus erhält der von Sauter komponierte Marsch „Vor Ypern“. Die Präsentation gerade dieses Stückes beweist, dass auch eine erfolglose und verlustreiche Belagerung durch bayerische Truppen wie die des belgischen Städtchens Ypern geeignet ist, Vorlage für einen „schneidigen Marsch“ (General-Anzeiger) zu werden.
Trotz aller gegenteiligen Beweise wird die Illusion vom amüsanten Soldatenleben aufrechterhalten. Im August 1918 kommt das „lustige Spiel“ mit dem Titel „Der Hias“ auf die Bühne des Stadttheaters. Das Stück soll, schreibt der General-Anzeiger, „dem großen Publikum ein Bild von all dem Leben und Treiben unserer Kämpfer an der Front zeigen“. Dies zu einer Zeit, als die immer zahlreicheren Todesanzeigen beweisen, dass es an der Front alles andere als heiter zugeht.
In ihrem Bemühen, die Stimmung zu heben, lässt die Militärführung nichts unversucht. Am 4. September 1918 spricht der protestantische Divisionsgeistliche Peter Wolffhardt bei einem evangelischen Gemeindeabend im Luisengarten. Er appelliert an die Würzburger, „das Pflichtgefühl zu stählen“; auch die Heimat müsse ihre Schuldigkeit tun. Diese bestehe in „treuer Arbeit für alle Kriegszwecke“ und in heiligem Opfermut, außerdem in „willigem Ertragen jeglicher Entbehrung“ und in „rücksichtslosem Vertrauen auf das deutsche Heer und seine Führung“. Der Geistliche bringt, wie viele Pfarrer vor ihm und nach ihm, auch Gott ins Spiel; wenn alle „ein Herz und ein Wille“ seien, „dann ist Gott mit uns und wird uns segnen“, behauptet er.
Die vom Divisionsgeistlichen geforderte „treue Arbeit für alle Kriegszwecke“ findet auch in Werkhallen statt. Würzburg ist kein Zentrum der Rüstungsindustrie, doch wirken hier Menschen daran mit, die Kriegsmaschinerie am Laufen zu halten. Sie arbeiten vor allem in der Firma Koenig & Bauer (KoeBau), die eigentlich Druckmaschinen herstellt, und in der Stahl- und Kranbaufabrik Noell, die 1879/80 die Grombühlbrücke gebaut hat. 1914 sind die Geschäfte für KoeBau noch gut gelaufen. Doch nach Kriegsausbruch geht die wichtige Auslandsnachfrage immer mehr zurück. Nur Aufträge aus Skandinavien kommen noch, bis 1917 der Bau von Druckmaschinen ganz verboten wird. Die Produktion verlagert sich auf Schleifmaschinen, Hufeisen, Radnaben und Achsen, landwirtschaftliche Maschinen, Proviantwagen, Kochapparate und andere in Kriegszeiten benötigte Produkte; Waffen werden dagegen in Würzburg nicht produziert. Anders sieht es bei der österreichischen Tochter Mödling aus, die kleinkalibrige Artilleriegeschosse herstellt.
Schüler unterernährt, Lehrer an der Front
Die Arbeiter sind, trotz Zulagen, angesichts der verheerenden Versorgungslage oft unterernährt, ebenso wie Schüler und Lehrer in den verbliebenen Schulen, die nicht wegen des Krieges in Lazarette verwandelt wurden. Ein Drittel der männlichen Lehrpersonen ist an der Front. Der Würzburger Stadtschulrat Gustav Walle macht vor dem Stadtrat kein Hehl aus seinen Sorgen: „Die Unterernährung, speziell der Mangel an Fett, beeinträchtigt nach dem Gutachten vieler Schulmänner die geistige Aufnahmefähigkeit.“ Hinzu komme der „Mangel an Aufsicht – und nicht bloß dort, wo der Vater zum Heere einberufen ist“.
Gleichzeitig wird viel Energie darauf verwendet, die Schüler auf den Kriegseinsatz vorzubereiten. Die Privatschule Adams-Institut am heutigen Friedrich-Ebert-Ring veranstaltet noch im Juli 1918 Schülerwettkämpfe „in den der militärischen Jugendausbildung dienenden Körperübungen Lauf, Sprung und Wurf“. Ob die Wettbewerbe wirklich, wie der General-Anzeiger schreibt, „von den Zuschauern mit großer Begeisterung“ verfolgt wurden, ist angesichts des möglichen Kriegstodes der künftigen Soldaten zumindest fraglich.
In Würzburg existiert außerdem ein „Jugendregiment“ mit mehreren Kompanien, das dienstags von 20 bis 22 Uhr in der Ludwigshalle oder auf dem Gardistenplatz übt. Militärische Aktivitäten wie Schwarmübungen, Arbeit im Schützengraben, Handgranatenwurf und Geländeübungen finden am Galgenberg, also auf dem Gelände der heutigen Landesgartenschau statt. Die meisten Jungen, die im Sommer 1918 hier exerzieren, entgehen den Massakern an den Fronten. Vielen fehlt dieses Glück 21 Jahre später, als ein noch schlimmerer Weltkrieg tobt.
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