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WÜRZBURG
Septime Gorceix und die Flucht quer durch Europa
Im Ersten Weltkrieg lebten 6000 Gefangene in einem streng bewachten Lager am Würzburger Galgenberg. Der französische Soldat Albéric Dreux schuf 1916 dieses Aquarell; es zeigt eine idealisierte Sicht des Lagers, da die deutschen Zensoren es sonst nicht freigegeben hätten.
Foto: Archives départementales du Var, Draguignan | Im Ersten Weltkrieg lebten 6000 Gefangene in einem streng bewachten Lager am Würzburger Galgenberg. Der französische Soldat Albéric Dreux schuf 1916 dieses Aquarell; es zeigt eine idealisierte Sicht des Lagers, da ...
Roland Flade
 |  aktualisiert: 03.12.2019 10:32 Uhr

Hundert Jahre ist das jetzt her. Im Frühjahr 1918 arbeitete der 27-jährige französische Soldat Septime Gorceix im österreichischen Städtchen Grieskirchen bei Linz in einer Brauerei. Er war seit drei Jahren Kriegsgefangener, hatte zwei gescheiterte Fluchtversuche hinter sich und sich, obwohl er das als Unteroffizier nicht gemusst hätte, freiwillig zu einem Arbeitseinsatz gemeldet.

Die meisten Männer Deutschlands und Österreich-Ungarns wurden an der Front gebraucht; Kriegsgefangene mussten ihren Platz einnehmen. Gorceix wollte Möglichkeiten zur dritten Flucht auskundschaften. Er wusste: Bei Arbeitseinsätzen waren die Sicherheitsvorkehrungen nicht so streng.

Septime Gorceix hatte zwei Jahre im großen Gefangenenlager am Würzburger Galgenberg verbracht. Wo jetzt die Landesgartenschau stattfindet, lebten damals bis zu 6000 französische und zuletzt auch amerikanische Soldaten in Holzbaracken.

Ursprünglich hatten die Deutschen gedacht, der Erste Weltkrieg werde bis Weihnachten 1914 siegreich beendet sein. Als die Kämpfe kein Ende fanden, musste schnell Platz für Hunderttausende von Gefangenen geschaffen werden. Ein großes Lager entstand auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes am Galgenberg, ein anderes auf der Festung Marienberg, die damals ebenfalls vom bayerischen Militär verwaltet wurde, und zu deren Füßen.

In Würzburg hatte Septime Gorceix sich mit dem drei Jahre jüngeren Lucien Rahir angefreundet, seinem Strohsacknachbarn. Wie Gorceix hatte Rahir vergeblich versucht zu fliehen, war aber ebenfalls nahe der Grenze zur neutralen Schweiz aufgegriffen worden. Beide Männer wollten sich nicht mit der endlos scheinenden Zeit hinter Stacheldraht abfinden, auch wenn sie – solange sie sich an die strengen Regeln hielten –Theater spielen und Sport treiben durften.

Ein Zufall hatte Gorceix und Rahir im vierten Kriegsjahr in Grieskirchen wieder zusammengeführt; sofort schmiedeten sie neue Fluchtpläne.

Am 2. Mai 1918 war es so weit. Weil sie glaubten, aus Grieskirchen wieder in ein Lager mit Maschinenpistolen auf Wachtürmen zurückgebracht zu werden, traten sie überstürzt die Flucht an. Das regnerische Wetter verhieß nichts Gutes, aber dieses Risiko gingen sie ein.

Septime Gorceix, dem französischen Soldaten, gelang vor 100 Jahren die Flucht aus der Kriegsgefangenschaft.
Foto: Antoine Gorceix, Paris | Septime Gorceix, dem französischen Soldaten, gelang vor 100 Jahren die Flucht aus der Kriegsgefangenschaft.

„... wo wir in unseren völlig durchnässten Kleidern schlafen“

Die erste Nacht verbrachten sie im Freien: „Um nicht von der Morgendämmerung überrascht zu werden, ziehen wir uns unter die Tannenbäumchen eines Waldes zurück, wo wir einige Stunden in unseren völlig durchnässten Kleidern schlafen“, schrieb Gorceix später in seinem Bericht über die Zeit in Würzburg und die Fluchten.

Der 27-Jährige, der sich auf seinen beiden vorangegangenen Fluchten oft in Wäldern versteckt hatte, wusste, dass selbst dichte Bäume keinen wirklichen Schutz bieten konnten. Auch in Würzburg und Umgebung wurden in solcher Umgebung Geflohene wieder eingefangen. Dies blieb bis zum Ende des Krieges so; im August 1918 würde ein Waldaufseher im Veitshöchheimer Gemeindeforst drei entwichene Franzosen entdecken und sie festnehmen. Sie waren gerade dabei, im Dickicht ihr Abendessen vorzubereiten und Feuer anzumachen.

Um schneller voranzukommen, beschlossen Gorceix und Rahier, diesmal hauptsächlich mit dem Zug zu fliehen, da anders als in Deutschland Männer mit Akzent im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn nicht weiter auffielen. Septime Gorceix, der Geografie und Geschichte studiert hatte, sprach einigermaßen Deutsch. Auch ihre Arbeitskleidung und die Filzhüte, die sie sich besorgt hatten, gaben sie nicht sofort als Gefangene zu erkennen.

Ihr Ziel lag diesmal im Osten. Doch der von den Deutschen nicht besetzte Teil Rumänie

Sohn Antoine Gorceix mit dem Buch seines Vaters.
Foto: Roland Flade | Sohn Antoine Gorceix mit dem Buch seines Vaters.

ns war 1300 Kilometer entfernt – wie sollten sie sich so weit im Feindesland durchschlagen?

In Wien, einer ihrer ersten Stationen, fanden Gorceix und sein Kamerad Unterschlupf in einem zwielichtigen Hotel. Doch auch diese Art des Übernachtens konnte gefährlich sein. Im Januar desselben Jahres waren beispielsweise zwei französische Offiziere auf der Flucht in einem Hotel am Würzburger Hauptbahnhof abgestiegen. Ihr obligatorischer Eintrag im Fremdenbuch wies einen Fehler auf und sie wurden verhaftet.

Doch Gorceix und Rahir hatten Glück – und sie gingen in Wien ein noch viel größeres Risiko ein. Septime Gorceix hatte schon lange davon geträumt, im Park von Schönbrunn, dem österreichischen Versailles, spazieren zu gehen und die Landschaft vom Säulenbau der Gloriette aus zu betrachten. Jetzt waren sie ganz in der Nähe. Sollten sie diese einmalige Gelegenheit verstreichen lassen? Wie zwei Touristen stiegen die Franzosen in der Gloriette nach oben, auch Rahir, der vergeblich versucht hatte, seinen Begleiter von diesem gefährlichen Unternehmen abzubringen.

„Es wäre für uns ziemlich schwierig, der Anklage wegen Spionage zu entgehen“

Im Nachtzug fuhren Gorceix und Rahir anschließend nach Budapest. Sie nahmen ein Zimmer in einer Absteige, wo eine Frau Verdacht zu schöpfen schien. „Der Portiersfrau war es seit unserer Ankunft klar, dass wir Ausländer sind“, schrieb Gorceix rückblickend. „Man muss uns für Spione halten.“ Wie hätten sie sich gegen einen solchen Vorwurf wehren können? „Es wäre für uns ziemlich schwierig, der Anklage wegen Spionage zu entgehen, selbst wenn unsere wahre Identität aufgedeckt würde“, schreibt Gorceix. Denn: „Wie sollten wir etwa unseren zweitägigen Aufenthalt in Wien erklären, nur durch Spaziergänge nach Lust und Laune?“

Gorceix und Rahir wurden nicht entdeckt. Am Westbahnhof nahmen sie den Nachtzug nach Temeschwar, das damals in Ungarn lag. Von dort fuhren sie in die Provinzstadt Karasebes, gingen zu Fuß weiter und machten sie sich an die Übersteigung der Karpaten. Der Marsch durch Schnee, Eis und unwegsames Gelände war enorm gefährlich und Gorceix fühlte sich schon an die Abenteuer von Robert Scott erinnert, der bei seiner Expedition zum Südpol im Jahr 1912 mit seinen Kameraden im Eis erfror. Glücklich überwanden Gorceix und Rahir einen Bergpass und erreichten schließlich die ungarisch-rumänische Grenze.

Vor den traditionell frankreichfreundlichen Einheimischen brauchten sie jetzt keine Angst mehr zu haben, auch oder gerade, wenn sie sich als französische Soldaten auf der Flucht zu erkennen gaben, wohl aber vor den Deutschen, die einen großen Teil Rumäniens besetzt hatten. Wieder hatten sie Glück: Ein Dorflehrer, der zugleich das Amt des Bürgermeisters versah, stellte ihnen gefälschte Ausweise aus und wechselte ihnen Bargeld.

Sofort fassten Gorceix und Rahir den nächsten wagemutigen Plan: Sie beschlossen, auf dem Weg in den Osten nach Bukarest zu fahren, in die Höhle des Löwen, wo sich das deutsche Hauptquartier befand. Dort würde sie erst recht niemand vermuten.

„Die Innereien vom Hunger aufgewühlt“

Im Bukarester Park Cismigiu ruhten sie sich aus. Gorceix genoss die Frühlingsstimmung und bewunderte die graziösen Frauen, die hier spazieren gingen. Aber auch deutsche Soldaten bevölkerten die Parkwege. Sie waren frisch rasiert und freuten sich, ein halbes Jahr vor der Niederlage, des Lebens. Gorceix verglich sich und Rahir mit ihnen: „So sehen Sieger aus. Wie miserabel sind wir dagegen, die mit brennenden Füßen, die Innereien vom Hunger aufgewühlt, zerlumpt auf der Bank herumhängen.“

Im Ersten Weltkrieg lebten 6000 Gefangene in einem streng bewachten Lager am Würzburger Galgenberg. Der französische Soldat Albéric Dreux schuf 1916 dieses Aquarell; es zeigt eine idealisierte Sicht des Lagers, da die deutschen Zensoren es sonst nicht freigegeben hätten.
Foto: Archives départementales du Var, Draguignan | Im Ersten Weltkrieg lebten 6000 Gefangene in einem streng bewachten Lager am Würzburger Galgenberg. Der französische Soldat Albéric Dreux schuf 1916 dieses Aquarell; es zeigt eine idealisierte Sicht des Lagers, da ...

Nach einer weiteren Bahnfahrt waren Septime Gorceix und Lucien Rahir bald erneut zu Fuß unterwegs. Pferdeskelette, Ruinen und Verwesungsgeruch machten ihnen klar, dass sie sich der ehemaligen Front näherten. Mitten in der Nacht begannen sie, die Schützengräben und den Stacheldraht zu überwinden. Kurz vor Morgengrauen am Samstag, dem 5. Juni 1918, waren sie frei – 1136 Tage nachdem sie erstmals das Tor zum Gefangenenlager durchschritten hatten.

Nach dem Krieg arbeitete Septime Gorceix als Geschichtsprofessor in Paris. 1935 besuchte er die Orte seiner Gefangenschaft, darunter Würzburg, erneut und schrieb auch über diese Reise ein Buch; inzwischen war am Galgenberg ein großer Fliegerhorst entstanden. 1964 starb er.

Als 2016 Septime Gorceix? Bericht über den Ersten Weltkrieg unter dem Titel „Flucht vom Galgenberg“ erstmals auf Deutsch erschien, kam sein 88-jähriger Sohn Antoine zur Präsentation des Buches aus Paris nach Würzburg. In der Ausstellung zur Geschichte der Besiedlung des Hublands wird auf der Landesgartenschau auch Septime Gorceix behandelt.

Buchtipp:

Roland Flades Buch „Vergessenes Leid. Wie Würzburger den Ersten Weltkrieg erlebten“ (284 Seiten, 14,95 Euro, zahlreiche Farb- und Schwarzweißabbildungen) ist im Verlag der Main-Post erschienen und in den Geschäftsstellen und online erhältlich: shop.mainpost.de

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Der kleine Kompass, der den französischen Gefangenen Septime Gorceix auf seinen Fluchten begleitete.
Foto: Roland Flade | Der kleine Kompass, der den französischen Gefangenen Septime Gorceix auf seinen Fluchten begleitete.
 
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