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WÜRZBURG
Sechs Würzburger Kinder in der Hölle
In den frühen Morgenstunden des 15. März 1944 wurden Einsatzkräfte aus den Reihen der Kriminalpolizei, der Schutzpolizei und der Fürsorge im Hof des Würzburger Polizeipräsidiums in der Ottostraße zusammengezogen. Ihr Auftrag: eine Gruppe von Sinti zu verhaften und nach Auschwitz zu schicken.
Anneliese Winterstein mit ihrem Sohn Karl-Heinz, in den Tod getrieben und ermordet in Auschwitz 1944.
Foto: FOTO ARCHIV RITA PRIGMORE | Anneliese Winterstein mit ihrem Sohn Karl-Heinz, in den Tod getrieben und ermordet in Auschwitz 1944.
Von unserem Redaktionsmitglied Roland Flade
 |  aktualisiert: 30.04.2008 18:08 Uhr

Ein Teil der Häscher ging in das Wohnviertel um Pleidenturm und Korngasse, wo Angehörige der 22-jährigen Sängerin und Tänzerin Theresia Winterstein wohnten, deren Tochter Rolanda im April 1943, wahrscheinlich als Folge von medizinischen Versuchen, in der Universitäts-Kinderklinik gestorben war.

Auf der Liste der zu Verhaftenden stand die Familie ihres Onkels Karl Winterstein, der bis zu seiner Entlassung aus der Wehrmacht 1942 als Heizer auf dem Flugplatz am Galgenberg gearbeitet hatte. Außer dem 47-Jährigen wurden auch seine Ehefrau Elisabeth und seine Töchter Eleonore und Anneliese in die Ottostraße gebracht.

Theresia Wintersteins Cousine Eleonore war 18 Jahre alt, ihre Tochter Gisela hatte wenige Tage zuvor den ersten Geburtstag gefeiert. Eleonores 20-jährige Schwester Anneliese hatte zwei Söhne, den 1940 geborenen Karl-Heinz und den im September 1943 geborenen Waldemar.

Den reibungslosen Ablauf der Verschleppungsaktion behinderte zunächst die Tatsache, dass der kleine Waldemar mit Lungenentzündung in der Universitäts-Kinderklinik lag. Eine städtische Fürsorgebeamtin musste dennoch auch ihn abholen.

In seinem Spruchkammerverfahren erklärte nach dem Krieg der Würzburger „Zigeuner-Referent“ Christian Blüm, der Organisator der Deportation, das Baby sei „nach ärztlichem Gutachten nicht mehr krankenhausbedürftig und deshalb transportfähig gewesen“. Eleonore Winterstein, die den Transport überlebte, betonte dagegen, dass Waldemar „gegen den Willen des Arztes Prof. Dr. Rietschel“, also des Direktors der Kinderklinik, die Klinik habe verlassen müssen.

Vor der Spruchkammer, die im Behördenhochhaus in der Augustinerstraße tagte, wandte sich am 31. August 1948 der Ankläger mit vorwurfsvoller Stimme an Blüm: „Gab es für Sie keine Bedenken, keine Hemmungen, dass man Kinder von drei bis vier Monaten mit auf den Transport schickte und dort eingliederte? Gab es für Sie als Christ keine Hemmungen zu sagen, die Kinder können nichts dafür, ich kann den Dienst nicht machen?“ Er habe „zu damaliger Zeit kein Auge zugemacht“, erwiderte Blüm, „denn ich war Mensch und damals auch Vater und ich habe mir schwere Sorgen gemacht.“ Von der buchstabengetreuen Umsetzung der ihm aus Berlin zugeleiteten Anweisungen hielten ihn diese Sorgen freilich nicht ab.

Am 16. März 1944 wurden die Sinti mit dem Polizeitransportwagen zum Bahnhof gebracht, wo sie die bereits wartenden Personenwaggons besteigen mussten. Über die Situation auf dem Bahnsteig berichtete Blüm später: „Ich hatte viel zu tun, es war ein beschleunigter Zug, welcher um 11.04 oder 11.05 Uhr abging und bis zu diesem Zeitpunkt mussten die Personen verfrachtet sein. Ich musste mich am Bahnhof überzeugen, dass die Leute im Zuge untergebracht waren, die Fenster mussten geschlossen sein, mit Rücksicht auf die Kleinkinder.“

 

„Ich sah einen Haufen aufgeschichteter nackter toter Menschen“

Auschwitz-Überlebende

Die Deportierten durften Kleidung und Nahrung für die Reise mit sich nehmen. Sonstiges Eigentum war zurückzulassen und wurde konfisziert.

Schon die mehrtägige Fahrt dürfte eine Tortur gewesen sein. „Zusammengepfercht, ohne Essen, ohne Wasser, ohne Licht, fuhren wir ins Ungewisse“ – mit diesen Worten schilderte ein überlebender Sinto seinen Transport nach Auschwitz. Doch wie unerträglich die Verhältnisse im Zug auch waren, was die Würzburger Sinti in Auschwitz erwartete, musste selbst die schlimmsten Befürchtungen übertreffen.

„Wir schauten oben durch die Öffnungen der Viehwaggons, durch den Stacheldraht, mit dem sie gesichert waren, und sahen Lastwagen voller Leichen vorbeifahren“, erinnerte sich ein Überlebender. „Als sich endlich die Waggons öffneten, empfing uns die SS mit Schlägen und Bluthunden – wir waren am Ziel. In diesem Augenblick hörten wir auf, Menschen zu sein.“

Kahlgeschoren und mit eintätowierten Häftlingsnummern wurden die Neuangekommenen zu den Baracken des abgetrennten sogenannten „Zigeuner-Familienlagers“ geführt, das sich in unmittelbarer Nähe der Krematorien befand. In drei Etagen reichten die Schlafpritschen fast bis zum Dach.

„Die Baracken hatten keine Fenster, sondern nur Lüftungsklappen“, schrieb eine Sintezza nach der Befreiung. „Der Fußboden war aus Lehm. In einer Baracke, die vielleicht für 200 Menschen Platz gehabt hätte, waren oft 800 und mehr untergebracht. Die Menschen saßen reglos in diesen Buchsen und haben uns nur angestarrt. Ich habe gedacht ich träume, ich bin in der Hölle.“

Am Morgen nach der Einlieferung trat eine Gefangene vor die Baracke, wo aus Fässern Tee ausgeschenkt wurde: „Dort sah ich – es war das erste Mal, dass ich so etwas Schreckliches sah, ich werde es nie vergessen – einen Haufen aufgeschichteter nackter toter Menschen.“

Zu den Mitgliedern der Familie Winterstein, die sich in Birkenau befanden, gehörte unter anderen auch Eleonores und Annelieses Würzburger Verwandte Karoline Winterstein mit ihren Kindern Elisabeth (geboren 1937), Sieglinde (1940) und Rigo (1943).

Im Lager herrschten katastrophale sanitäre Verhältnisse, die Gefangenen litten permanent an Hunger und wurden von den Wachmannschaften schikaniert, Seuchen grassierten, es fehlte an den elementarsten Voraussetzungen für die Versorgung von Babys und Kleinkindern (siehe Artikel rechts).

Wenige Tage nach der Ankunft der Neuzugänge starb am 11. April 1944 die dreijährige Sieglinde, die mit ihrer Mutter bereits im vorangegangenen Dezember eingeliefert worden war. Am 24. April folgte der sechs Monate alte Waldemar, der Sohn von Anneliese. Es ist wahrscheinlich, dass beide Kinder in einer der Krankenbaracken den Tod fanden.

Der tschechische Häftling und Arzt Frantisek Janouch notierte nach dem Krieg, das „schrecklichste und am meisten erschütternde Erlebnis“ sei gewesen, als er den Posten eines Kinderarztes im „Zigeunerlager“ zugewiesen bekam: „Auf der Seite, wo die Kinder in den Krankenblock aufgenommen wurden, kamen die Mütter mit ihren Kindern, um sie weinend abzugeben. Sie wussten, dass sie ihre Kinder niemals wiedersehen würden. Auf der entgegengesetzten Blockseite suchten sie später ihre toten Kinder.“ Täglich starben zehn bis fünfzehn Jungen und Mädchen.

Auch der Auschwitz-Häftling Hermann Langbein hat die Situation in den Krankenbaracken beschrieben: „Vor der Tür der Ambulanz steht eine lange Schlange. Viele Frauen mit ihren Kindern, jammernd, weinend, schreiend. Was soll aber der Arzt, selbst Häftling, machen? In der Nachbarbaracke liegen die Frauen und Kinder. Da liegen auf dem Strohsack sechs Babys, sie können erst ein paar Tage alt sein. Wie schauen sie aus! Dürre Glieder und einen aufgetriebenen Bauch. Auf den Pritschen nebenan liegen die Mütter, ausgezehrt, brennende Augen. An der Rückwand ist ein Holzverschlag angebaut. Ein Berg von Leichen, gut zwei Meter hoch. Fast lauter Kinder, Babys, Halbwüchsige, darüber huschen Ratten.“

Der Todestag von Eleonore Wintersteins Tochter Gisela ist ebenfalls bekannt: 14. Juni 1944; Gisela wurde 15 Monate alt. Auch Karolines Kinder Elisabeth und Rigo sowie Annelieses Sohn Karl-Heinz überstanden das Lager nicht.

Anneliese Winterstein, einer schönen jungen Frau von 20 Jahren, die gerade ihre zwei Kinder verloren hatte, stand eine weitere Prüfung bevor. Die SS bestimmte sie als Prostituierte für das Lager-Bordell. Aus Scham und Verzweiflung warf sie sich am 12. Juni 1944 in den Stacheldrahtzaun, der das Lager umgab und mit Starkstrom geladen war. Was konnte es wert sein noch weiterzuleben, jetzt, wo ihre Kinder tot waren? „Als sie merkte, dass sie fürs Bordell eingeteilt werden sollte, rannte sie zum Stromzaun“, gab Theresia Winterstein die Berichte von Augenzeugen wieder. „Bevor sie sich von einem Deutschen anfassen ließ, wählte sie lieber den Tod.“

 

Daten & Fakten

Sinti und Roma im Dritten Reich Von 1940 bis 1945 wurden mehrere hunderttausend Sinti und Roma ermordet, darunter viele Mitglieder der Familie Winterstein. Theresia Winterstein, ihre Tochter Rita und ihr Mann Gabriel Reinhardt überlebten das Dritte Reich in Würzburg. Eleonore und Karoline Winterstein kehrten aus den Lagern zurück. Die 27-jährige Karoline war noch im Februar 1945 im Frauen-KZ Ravensbrück sterilisiert worden.

 
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