Anna-Maria und Dr. Peter Schwittek haben noch einmal Glück gehabt. „Das Erdbeben ist uns ganz schön in die Knochen gefahren“, sagt der Randersackerer, der mit seiner Frau bald wieder ein paar Monate am Main, aber vor allem in Afghanistan lebt: Das Haus mit dem Büro von Schwitteks Hilfsorganisation „Ofarin“ in Kabul wurde zum Glück nicht beschädigt. 1996 haben die Schwitteks mit Freunden und Bekannten „Ofarin“ gegründet – einen Verein, der regionale Initiativen und Nachbarschaftshilfen in Afghanistan fördert. „Ofarin“ heißt so viel wie „Prima“, „Genau richtig“ oder „Gut gemacht“.
Man ist dem Naturereignis ja ganz und gar ausgesetzt“, kommentiert der promovierte Mathematiker das Erdbeben in seiner zweiten Heimat. Er kennt Afghanistan seit über 40 Jahren, lehrte dort vor langer Zeit Mathematik an der Universität Kabul. „Wenn die Erdstöße vorbei sind, fürchtet man immer, dass es gleich wieder von neuem losgeht“, sagt der 75-Jährige.
Nicht jeder hatte so viel Glück wie die Schwitteks und die Mitarbeiter vom „Ofarin“-Büro. Das Haus von ihrem Kollegen Hekmat, rund 40 Kilometer von der afghanischen Hauptstadt entfernt, ist teilweise eingestürzt. „Hoffentlich schaffe ich es, noch vor dem ersten Frost eine Unterkunft für meine Familie zu finden“, sagt Hekmat. Er wohnte vor ein paar Jahren mit Schwitteks in Randersacker, während seine Tochter in München operiert wurde. „Ich bekam einen Kinderwagen geliehen und bin immer am Main spazieren gegangen“, erinnert er sich.
Zum Glück sind Schwitteks Schützlinge nach dem Erdbeben wohlauf. Die Kinder und Jugendlichen besuchen das Schulprogramm von „Ofarin“. Die Schwitteks leben seit 1978 in Afghanistan, haben Kriege, Naturkatastrophen, Rückschläge und Erfolge erlebt. Jetzt blicken beide stolz auf die Jahre des Aufbaus ihres Schulprogramms zurück. 1986 waren sie Mitbegründer von „GESA“ Gesundheitshilfe Afghanistan e.
V. und „LEPCO“, der Partnerorganisation der in Würzburg ansässigen DAHW Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe e. V. Noch heute ist Anna-Maria Mitglied der DAHW. Doch jetzt stecken die Mittsiebziger ihre Kraft in die Weiterführung von „Ofarin“. „Eine gute Schulbildung ist für die Entwicklung des Landes wichtiger denn je“, sagt Schwittek. Die rund 760 Mädchen und Jungen des Grundschulprogrammes müssten zum selbstständigen Denken angeregt werden. „Nur so kann der Unterricht auch umgesetzt werden“, ergänzt sein Frau Anna-Maria.
Mitarbeiterin Frozan ist für die Lehrerfortbildung zuständig und Kollege Sher Khan der lokale Leiter des Schulprogrammes. „Oft konzentrieren sich in den staatlichen Schulen die Lehrer nur auf ein oder zwei Schüler. Dann gerät die ganze Klasse in Schieflage. Genau das wollen wir mit unserem Unterricht vermeiden“, sagt Frozan. „So gibt es in ihren Klassen je zwei Lehrer oder Lehrerinnen mit rund 30 Kindern. Unterteilt wird in zwei Gruppen. „Wir stellen keine Ja- oder Nein-Fragen. Die Kinder werden zum Denken und Erklären animiert.“
In Kabul und Umgebung gibt es 25 Vorschul- und über 400 Grundschulklassen, für die „Ofarin“ zuständig ist. Der Unterricht findet meistens früh morgens in Moscheen statt. „Die Räume werden uns von den Mullahs zur Verfügung gestellt. Wir sind sehr froh darüber“, sagt Anna-Maria Schwittek. Das Projekt wird unterstützt von Misereor, Die Sternsinger, einer Schweizer Stiftung und durch Privatspenden.
Lehrerin Aicha macht der Unterricht Spaß. Die Kleinen, die sich auf den mit Teppich belegten Fußboden des Gotteshauses drängen, recken Köpfe und Finger in die Höhe. „Ich gehe selbst noch zur Schule und möchte den Kleinen etwas von meinem Wissen weitergeben“, sagt die 17-Jährige. „Ich selbst möchte später Staatsanwältin werden.“
Eine ihrer Schülerinnen ist Hojerat. Sie besucht die 12. Klasse eines Gymnasiums, kann aber weder lesen, noch schreiben oder rechnen. Deshalb sitzt sie jetzt auch mit den Grundschülern zusammen. „Das ist ein großes Problem hier. Die wenigsten lernen in den staatlichen Schulen den Unterrichtsstoff, den sie zum Leben und fürs Studium brauchen“, betont der Würzburger Friedenspreisträger Schwittek.
In einem Teil des Raumes warten bereits neu hinzugekommene Frauen und Mädchen auf ihre Aufnahme. Doch für neue Klassen fehlt das Geld. Rund 700 Euro pro Jahr werden benötigt, um eine Klasse zu finanzieren. „In dem Betrag ist alles dabei, auch die Fahrten, um die Qualität des Unterricht zu gewährleisten“, erklärt Anna-Maria Schwittek.
Jetzt freut sich das Paar wieder auf das heimatliche Randersacker. Denn es wird kalt in Kabul, und die wenigsten Häuser lassen sich gut heizen. Im Weinort am Main sind sie gleich wieder „mittendrin im Dorfleben.“ Fünf Monate werden die Schwitteks in Unterfranken bleiben. Während des Studiums in Bonn lernten sich der Mathematiker und die Psychologin einst kennen. Gemeinsam gingen sie nach Würzburg, wo Peter Schwittek promovierte. „Randersacker kannten wir nur durch den Federweißen“, sagt die gebürtige Kölnerin. „Dann haben wir uns in ein leer stehendes Haus verliebt und es innerhalb von einer Woche gekauft. Außerdem waren die Mieten in Würzburg viel zu hoch.“
Die Dorfbewohner kennen das Paar als „Leute aus dem Orient“. „Randersacker ist Heimat, Afghanistan Berufung. Ein schönes Gefühl, das ich jedes Mal habe, wenn ich gesund aus dem Hindukusch zurückkomme“, sagt Peter Schwittek.
In seinem Buch „In Afghanistan“ beschreibt Peter Schwittek seine Erlebnisse in dem islamischen Land. Erschienen ist es 2011 beim vdf-Verlag Zürich, 240 Seiten, ISBN 978-3-7281-3411-0