Ein Jahr später, am 11. September 1947, versuchte ich, die Aufnahmeprüfung in die erste Klasse der Lehrerbildungsanstalt am Wittelsbacherplatz zu bestehen. Um rechtzeitig zur Stelle zu sein, traf ich mit meiner Mutter – der Vater war noch in Gefangenschaft – bereits einen Tag vorher in Würzburg ein in der Absicht, hier zu übernachten, was damals ein Wagnis war.
Da wir wussten, dass wir hier nichts zu essen bekommen würden, hatte meine Mutter das Fleisch eines Stallhasen zu Fleischküchlein verarbeitet, die wir dabei hatten. Auf der Suche nach einer Sitzgelegenheit entdeckten wir in der Theaterstraße in einem Ruinengrundstück einige Tische und Bänke. Wir ließen uns nieder und begannen mit unserer „Mahlzeit“. Als dies eine daneben sitzende Frau beobachtete, stellte sie die zielstrebige Frage: „Liebe Frau, was habt Ihr denn da Gutes zu essen?“ Daraufhin gab ihr meine Mutter auch ein Hasen-Fleischküchlein.
Bei der Erkundung nach einer Übernachtungsmöglichkeit wurden wir auf das „Josefsheim“ verwiesen. Dieses „Heim“ war jedoch nicht mehr als ein größerer Keller unter den Ruinen des ehemaligen Stadttheaters an der Ecke Theaterstraße/Spiegelstraße. Die Räume mit Stockbetten waren nach Geschlechtern getrennt. Meine Mutter hatte aber Angst, mich unter fremde Männer zu schicken und nahm mich an ihre Seite, da ich mit meinen 14 Jahren noch sehr kindlich wirkte. Trotzdem haben einige benachbarte Frauen gemurrt.
Das Thema des Aufsatzes bei der Prüfung lautete „Der diesjährige Sommer“. Nachdem in jenem Hungerjahr 1947 eine monatelange außerordentliche Trockenheit noch dazu eine Missernte verursacht hatte, fehlte es nicht an Inhalten zu diesem Thema.
Am Tage vor dem Unterrichtsbeginn, am 18. September 1947, ließ der Anstaltsleiter Oberstudiendirektor Ludwig Pollmann uns zukünftige Schüler der ersten Klasse mit den Eltern zusammenkommen. Im großen Gebäude am Wittelsbacherplatz befand sich neben der Schule auch ein Internat für Jungen, ohne das eine Teilnahme am Unterricht für auswärtige Schüler unmöglich gewesen wäre. Der Oberstudiendirektor stellte die Frage: „Wer von Ihnen ist Bauer?“ und sagte lapidar: „Wenn Sie mir keine Kartoffeln bringen, kann ich die Buben nicht über den Winter hier behalten und muss sie wieder nach Hause schicken“.
Von der Wahrheit dieser Aussage überzeugt, fuhren tatsächlich im Herbst Landwirte aus der Umgebung von Würzburg mit pferdebespannten eisenbereiften Wagen Kartoffeln am Nordportal (in Zwerchgraben) vor. Mit einer Rutsche ließen sie die damals so kostbaren Feldfrüchte in den Keller.
Die Beschaffung von Schreibpapier und Heften bereitete große Schwierigkeiten. Ohne Abgabe von Altpapier war kein neues Heft zu haben und selbst dann nur aus ungebleichtem, ungeleimtem Papier, auf dem die Tinte verlief. Wem es möglich war, der besorgte sich Altpapier von zu Hause. Manche Schüler durchsuchten auch die Abfalltonnen der Amerikaner nach Pappkartons, Zeitschriften und Zeitungen.
Nach der Zerstörung der Innenstadt eröffneten Bürogeschäfte Notläden am Stadtrand. In einer Garage in der Rottendorfer Straße hatte sich die bekannte Schreibwarenfirma „Stemmle“ einquartiert. Dorthin trugen wir unsere Altpapierbündel, die genau gewogen wurden. An der Kreuzung Rottendorfer Straße/Wittelsbacherstraße hatte sich ein Schreibwarenhändler Bausewein einen primitiven Kiosk errichtet. Dieser war so niedrig, dass selbst dieser kleine Mann mit seiner Glatze noch die Decke streifte, ein Umstand, der wohl seinen Haarausfall verursacht hatte, so spöttelten wir.
Im Gebrauch waren auch weiße Kunststoff-Tafeln, Größe A 5, die mit Bleistift zu beschreiben waren. Nach Benutzung konnte man die Schrift ähnlich wie bei einer Schiefertafel wieder entfernen. Wie erfreut war ich damals, als mir mein Vater aus englischer Kriegsgefangenschaft wiederholt Schreibhefte mit gutem Papier schickte! Neue Füllfederhalter gab es nur mit kegelförmigen, geriffelten Glasfedern, die sich jedoch als wenig brauchbar erwiesen, so dass Stahlfedern und Tintenfässer wieder zu Ehren kamen.
„Wenn Sie mir keine Kartoffeln bringen, muss ich die Buben wieder nach Hause schicken““
Der Direktor der Lehrerbildungsanstalt im Hungersommer 1947
Bis auf die Notausgabe eines von der Militärregierung genehmigten Lesebuches und einen Volksschul-Katechismus kann ich mich an überhaupt kein Lehrbuch in der ersten Klasse erinnern. So waren wir gezwungen, alles vorgetragene Wissen schriftlich zu fixieren, was gewiss auch bildungswirksam war.
Das weitaus größere Problem als die beengten Wohnmöglichkeiten stellte der Mangel an Nahrungsmitteln dar, denn wir Schüler waren im Wachstumsalter und hatten immer Appetit. Die Essensportionen waren zunächst äußerst dürftig: als Frühstück drei Scheiben trockenes Schwarzbrot mit zwei Tassen Malzkaffee ohne Milch und ohne Zucker, als Mittagessen eine Suppe mit Resten vom Vortag, einfache Mehl- oder Kartoffelspeisen mit einer undefinierbaren Soße und Salat.
Selten gab es Fleisch und wenn, dann vor allem in „gestreckter“ Form als Hackbraten, Gulasch oder Pichelsteiner. Einmal in der Woche aber kam der legendäre „Brotauflauf“, eine Erfindung der Küchenchefin, auf den Tisch: eingeweichte, mit einer süßen Flüssigkeit und Trockenobst vermengte Brotreste, über die man eine Vanille-Soße goss. Uns schmeckte der Brotauflauf und wir lobten die Kochkünste von Fräulein Rosi Seuffert, die es ja in dieser Notzeit wahrlich nicht einfach hatte.
Abends mussten wir oft mit einer rosafarbenen Fischpastete und Pellkartoffeln zufrieden sein. Oft musste zum trockenen Brot ein Dreieck Schmelzkäse (62,5 Gramm) genügen. Eine seltene Scheibe Leberwurst war eine große Köstlichkeit. Was es immer reichlich gab, war ungesüßter Kräutertee. Um die Abfallreste des Essens zu verwerten, wurden in einem provisorischen Bretterstall neben der Küche im Innenhof auch Schweine gemästet, was unseren Religionslehrer Studienrat Josef Stangl zu dem Ausspruch veranlasste: „Das Internat hat Schweine“. Wenn Schlachttag war, reichte es für den einzelnen Schüler freilich nur zu einer kleinen Leberwurst.
In der Hungerzeit 1947/48 war die nach dem Krieg von amerikanischen Wohltätigkeitsorganisationen gestiftete Schülerspeisung hochwillkommen. Diese wurde während der Vormittagspause vom Küchenpersonal ausgegeben: ein Schöpflöffel Grießbrei mit Aprikosenstückchen, Erbsenbrei mit Wurstwürfelchen, eine Dose Erdnüsse, eine Packung Kekse oder Zwieback, selten auch eine kleine Tafel Schokolade. Die Schülerspeisung gab es täglich außer am Sonntag.
Die Bezugsquellen für Nahrungsmittel waren für Großküchen vorgeschrieben und konnten nicht frei gewählt werden. So musste das Schwarzbrot für das Internat im Frauenland in einer Bäckerei Grieb in der Zellerau, also am anderen Ende der Stadt, geholt werden. Einige Male im Herbst und Winter 1947 zog ich mit der Küchenchefin Rosi Seuffert einen eisenbereiften zweirädrigen Karren durch die zerstörte Innenstadt über die Alte Mainbrücke bis in die Zellerau. In der Bäckerei Grieb stellten wir die Brotstollen senkrecht auf den Gitterrost des Karrens und zogen wieder in Richtung Frauenland.
Die Alte Mainbrücke war kurz vor dem Einzug der Amerikaner wie alle Würzburger Brücken noch von der Wehrmacht gesprengt worden. 1947 war die Sprengstelle nur notdürftig mit Eisenträgern überbrückt.
Eine weitere Szene aus jenem Hungerherbst 1947 wäre noch zu schildern: Ein Bauer oder Gärtner der Umgebung hatte eine größere Menge gelber Rüben angeliefert und vor den Fenstern des Speisesaales in einer Miete abgelagert.
Als die ersten Fröste einsetzten, stellte man fest, dass die ungenügende Abdeckung die Rüben nicht schützte und die obere Schicht schon zu faulen begann. Um die kostbaren Vitamine zu retten, kam es an einem kalten, regnerischen Samstagnachmittag im Spätherbst zu einem Großeinsatz der Internatsschüler.
Mit von der Kälte klammen Fingern mussten wir die noch brauchbaren gelben Rüben aus dem Matsch und Schlamm holen. Allen, die damals erbärmlich froren, wird dieses Erlebnis noch in Erinnerung sein.
Wie überall in Deutschland war auch im Internat am Wittelsbacherplatz die Hungersnot nicht gleichmäßig bedrückend. Bauernsöhne brachten von einer Heimfahrt auch damals schon ihre Wurstdosen mit. Am meisten hungerten die Bewohner der Städte und wir Heimatvertriebenen.
Wenn in einem Briefe meiner Mutter ein Abschnittchen der gültigen Lebensmittelmarke „50 Gramm Fleisch- oder Wurstwaren“ beilag, das sie sich selbst vom Mund abgespart hatte, so löste das eine wonnige Vorfreude aus. Ich konnte dann am Samstagnachmittag die Seinsheimstraße hinab gehen zur Metzgerei Michel, die nach der Eisenbahnunterführung auf der linken Seite lag und mir 50 Gramm Fleisch- oder gar Schinkenwurst kaufen. Einen Teil verzehrte ich sogleich und einen Teil hob ich auf bis zum Abend.
Öfter wurden wir gewogen und gemessen, denn die Amerikaner wollten den Grad der Unterernährung statistisch erfassen. Ab dem Frühjahr 1948 gab es für unterernährte Schüler die Möglichkeit, Sonderzuteilungen an Lebensmitteln zu erhalten. Voraussetzung war ein ärztliches Zeugnis, das die Unterernährung bescheinigte. Wir suchten daher den alten Sanitätsrat Dr. Wördehoff auf, der seine Praxis ganz in der Nähe hatte. Seine Untersuchungsmethoden waren ebenso oberflächlich wie originell. Nach dem Wiegen und Messen leuchtete er nämlich den geöffneten Mundraum mit einem brennenden Streichholz aus. Wir hatten große Mühen, unsere Lachkrämpfe zu unterdrücken.
Die meisten Schüler erhielten von ihm die Bescheinigung: „unterernährt“. Mit dieser musste man zur Ausgabestelle für Lebensmittelmarken gehen, die jedoch am Neunerplatz in der Zellerau lag. Da dieses Amt nur am Vormittag Parteiverkehr hatte, konnten wir die Zusatzmarken zunächst nicht abholen. Erst als sich ein geheimes Klopfzeichen herumgesprochen hatte – dreimal kurz, einmal lang – öffnete sich die Tür auch am Nachmittag und wir konnten uns Weißbrot, Butter, Milch und Wurst zusätzlich kaufen. Es war immer noch nicht genug, aber besser als gar nichts.
Nach der Währungsreform am 20. Juni 1948 besserte sich die Ernährungslage überraschend schnell. Bald stand auf dem Frühstückstisch auch ein Schüsselchen mit Marmelade und wenig später gab es auch für jeden eine Scheibe Butter, In der Weihnachtszeit 1948 brauchte im Internat am Wittelsbacher Platz kein Schüler mehr zu hungern.
Zur Person
Gerhard Schwarz hat viele Jahre als Oberlehrer in Eichelsee, einem Ortsteil von Gaukönigshofen, gewirkt und das Ortsleben stark geprägt. Unter anderem war er Dirigent der Musikkapelle. Er lebt noch heute mit seiner Frau in Eichelsee.