Ausgestiegen aus dem Bus standen sie verzweifelt und verängstigt vor dem großen blauen Haus in der Würzburger Innenstadt. Die kleinen Plastiktütchen, die sie in den Händen hielten, waren ihr einziges Hab und Gut. Was sie vor sich hatten, wussten sie nicht. Was sie hinter sich haben, hätten sie am liebsten vergessen: Krieg, Hunger, Verfolgung in ihrem eigenen Land, eine lange und gefährliche Flucht nach Deutschland und einen Aufenthalt in einer Gemeinschaftsunterkunft in München.
Als kleine Mädchen wurden sie von ihren Angehörigen auf die Suche nach einem besserem Leben geschickt. Gefunden haben sie es im Haus St. Lioba in Würzburg. Der Träger der Einrichtung „IN VIA Würzburg e.V. Katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit“ hat langjährige Erfahrung, wenn es um Frauenhilfe und Migrationsfragen geht. Ein Jugendwohnheim und eine Stelle für Jugendhilfe – schon seit mehreren Jahren finden junge Frauen zwischen 15 und 27 Jahren Unterstützung im Haus St. Lioba. Seit 2013 sind die Pforten auch für unbegleitete Flüchtlingsmädchen geöffnet.
Als die ersten Drei im März 2013 ankamen, mussten sich die Mitarbeiter erst einmal herantasten. „Abgesehen davon, dass die Mädchen ohne irgendwelche gültigen Dokumente hierher kamen und erst die ganzen Anträge gestellt werden mussten, brauchten wir auch einen Dolmetscher. Manche Mädchen konnten nur ein bisschen Deutsch, manche konnten nur ein bisschen Englisch“, erzählt Leiterin Caroline Manderbach.
Die Erfahrungen, die die Mädchen in ihrem jungen Alter machen mussten, sind nicht spurlos an ihnen vorüber gegangen. Hochtraumatisiert, würden sie ein häufiges Wechseln der Betreuer nicht so leicht verkraften. Deswegen ist es für die Mädchen wichtig, im Haus St. Lioba einen festen Bezugspädagogen zu haben, zu dem sie Vertrauen fassen können. „Manche Mädchen stecken das Geschehene am Anfang besser weg, manche leiden unter Kopfschmerzen, Schlafstörungen und können nur bei offener Tür oder mit Licht schlafen. Dann ist es sehr wichtig, sie zu begleiten und eine spezielle Unterstützung zu bieten“, erzählt Manderbach. Auch Ruhe brauchen die Mädchen am Anfang unbedingt. „Unsere erste Aufgabe war es, ihnen Schutzraum zu schaffen und das Gefühl zu geben, dass sie hier angenommen sind und dass hier immer jemand für sie da ist.“
Auf die kulturellen Gewohnheiten legten die Mitarbeiterinnen des Hauses St. Lioba großen Wert: „Wir haben uns vorher informiert, was in den Herkunftsländern der Mädchen los ist, aber auch was und wie sie gerne essen“, erzählt Anja Stange, die Leiterin der heilpädagogischen Gruppe. Trotzdem waren manche Überraschungen nicht zu vermeiden. So sei Mais in den afrikanischen Ländern nur Tierfutter und habe auf der Pizza nichts zu suchen. „Auch das, was wir als Normaltemperatur bezeichnen, ist für sie undenkbar. Da frieren sie, doch sich wärmer anziehen wollen sie nicht so gerne“, sagt Stange.
Je mehr die Mitarbeiterinnen des Hauses von den Mädchen erfuhren, desto mehr gewöhnten sich die Mädchen an das neue Leben. Die Probleme, mit denen sie heute konfrontiert werden, erinnern sie nicht mehr an früher: „Man merkt schon, dass die Mädchen sich in der Pubertät befinden, das normale Gezicke kommt schon manchmal durch. Aber wir finden es gut. Für uns heißt das, sie fühlen sich wohl,“ freut sich Stange.
Inzwischen sind es schon sechs Flüchtlingsmädchen zwischen 14 und 16 Jahren, die ihr neues Zuhause im Würzburger Haus St. Lioba gefunden haben. Manche haben keine Familie mehr. Andere wissen nicht, wo sie ist. Außer der ähnlichen Fluchtgeschichte verbindet sie alle der Wunsch, in Deutschland zu bleiben. Sie alle seien sehr zielstrebig und gewillt. Sie wollen schnell Deutsch lernen, der Erfolg in der Schule sei für sie sehr wichtig, erzählt Stange.
Auch in der freien Zeit langweilen sie sich nicht: Klavierunterricht, Fitness, Volleyball, HipHop oder Fußball sollen deprimierenden Gedanken möglichst wenig Raum lassen.
Die Mädchen unterliegen dem Schutz des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Das Haus St. Lioba hat die Mädchen in ihrer heilpädagogischen Wohngruppe aufgenommen. „Damit wir das Leben der Mädchen noch lebenswerter machen können, freuen wir uns aber natürlich auch über Spenden“, sagt Judith Jörg vom Vorstand „IN VIA Würzburg e.V.“
Bis sie 21 Jahre alt sind, haben die Mädchen die Möglichkeit im Haus St. Lioba zu bleiben. Was sie vor sich haben, wissen sie nicht. Was sie hinter sich haben, werden sie bis dahin hoffentlich vergessen.