Seit 50 Jahren gibt es eine Schule für sehbeeinträchtigte Kinder mit Mehrfachbehinderung. 1972 unterrichtete die Blindeninstitutsstiftung erstmals blinde und sehbehinderte Kinder, die zusätzliche körperliche und geistige Behinderungen hatten – als erste Schule im deutschsprachigen Raum überhaupt. Was heute selbstverständlich ist, war damals pädagogisches Neuland. Diese Weichenstellung vor 50 Jahren würdigte die Stiftung kürzlich mit einem Festakt in Würzburg. Die folgenden Informationen sind einer Pressemitteilung der Blindeninstitutsstiftung entnommen.
Der Entschluss der Stiftungsverantwortlichen im Jahr 1972, auch mehrfachbehinderte Kinder im Blindeninstitut Würzburg zu unterrichten, gleiche aus heutiger Sicht einer zweiten Gründung, erläuterte Vorstand Johannes Spielmann in seiner Begrüßung: "Keine andere Entscheidung in unserer fast 170 Jahre umfassenden Geschichte hat das Gesicht und das Wesen der Blindeninstitutsstiftung mehr verändert und bis heute geprägt."
Von der Blindenschule zum Sozialunternehmen
Die Öffnung für mehrfachbehinderte Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung führte nämlich nicht nur dazu, dass sie in den folgenden Jahrzehnten enorm gewachsen ist: Waren es im Schuljahr 1972/73 noch 37 Mitarbeitende und 50 Schülerinnen und Schüler, so beschäftigt die Stiftung heute circa 2500 Mitarbeitende und unterstützt rund 5000 sehbehinderte und blinde Menschen in Bayern und Thüringen – die meisten von ihnen haben eine komplexe Behinderung.
Die Entscheidung leitete auch ein Umdenken in der Blindenpädagogik im deutschsprachigen Raum ein. Viele Eltern suchten verzweifelt eine Schule für ihre mehrfachbehinderten, blinden Kinder und fanden in der Regel keine, die sie aufnahm. Denn noch bis Anfang der 1970er Jahre galten sie in der Fachwelt als "unbildbar".
Der damalige Stiftungsdirektor Jürgen Hertlein und sein späterer Nachfolger und "Volksschullehrer" Hans Neugebauer waren vom Gegenteil überzeugt. Gegen viele Widerstände, vor allem von anderen Blindenschulen und dem bayerischen Kultusministerium, eröffneten sie auf Bitten einer Elterninitiative die erste Klasse für blinde Kinder mit weiteren Behinderungen.
Bei dem Festakt in der Blindeninstitutsstiftung gab Hans Neugebauer im Interview mit Marco Bambach und Johannes Spielmann einen Einblick in diese schwierige Zeit, in der die Blindeninstitutsstiftung kurz vor der Auflösung stand. Gründe dafür waren unter anderem, dass es Anfang der 1970er Jahre immer weniger "nur" blinde Schülerinnen und Schüler gab, deshalb die Schließung der Schule drohte und der Bezirk Unterfranken seinen Finanzierungsvertrag mit der Stiftung kündigte.
Letzen Endes sicherte vor allem die Entscheidung, auch Kinder mit weiteren Behinderungen zu unterrichten, das Überleben der Stiftung. "Bald kamen Eltern aus ganz Deutschland auf uns zu, die ihre Kinder sogar mit dem Flugzeug zu uns nach Würzburg bringen ließen, nur damit sie in die Schule gehen können", erinnerte sich Neugebauer.
Wie umfassende Teilhabe gelingen kann
Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, Jürgen Dusel, betonte, dass Rehabilitation, wie sie hier stattfinde und Inklusion nicht gegeneinander ausgespielt werden dürften.
Die Professorin für Pädagogik bei geistiger Behinderung Barbara Fornefeld skizzierte anschließend die letzten 50 Jahre in der Begleitung von komplex behinderten Menschen. Einen besonderen Schwerpunkt legte sie auf die Frage, was der Begriff "umfassende Teilhabe" in Praxis und Theorie bedeutet. Dabei zeigte sie Ansätze auf, wie auch große Einrichtungen wie die Blindeninstitutsstiftung mehrfachbehinderten Menschen das Grundbedürfnis, sich mit anderen auszutauschen und an allen Lebensbereichen teilzuhaben, in Form einer professionellen Lebensbegleitung ermöglichen können.
Den musikalischen Rahmen für die Veranstaltung setzte die Schulband Studio D unter der Leitung von Torsten Nowitzki und Fritz Schumacher vom Blindeninstitut Rückersdorf.