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WÜRZBURG
„Schmökerkiste“: Verkäufer werden zu lebenden Büchern
Staatsministerin zu Besuch in der Schmökerkiste       -  Bayerns Sozialministerin Emilia Müller besuchte mit Würzburgs Bischof Friedhelm Hofmann und Bundestagsabgeordnetem Paul Lehrieder (hinten) die „Schmökerkiste“ der Caritas am Burkardushaus. In dem rollenden Bauwagen verkaufen Menschen in schwierigen Lebenslagen gespendete Bücher für wenig Geld weiter. Foto: Daniel Peter
Foto: Daniel Peter (www.danielpeter.net) | Bayerns Sozialministerin Emilia Müller besuchte mit Würzburgs Bischof Friedhelm Hofmann und Bundestagsabgeordnetem Paul Lehrieder (hinten) die „Schmökerkiste“ der Caritas am Burkardushaus.
Pat Christ
Pat Christ
 |  aktualisiert: 28.04.2017 03:28 Uhr

Anja Dyes liebt Bücher. Darum studierte sie auch in den USA amerikanische Literatur. Weil sie psychisch schwer erkrankte, konnte die 53-Jährige jedoch trotz Masterabschluss keine Karriere machen. Mit Büchern allerdings befasst sie sich nach wie vor: Dyes arbeitet einmal pro Woche in der „Schmökerkiste“ des Fördervereins Wärmestube. „Das ist eine gutes Projekt, das andere Städte nachahmen sollten“, sagte Staatsministerin Emilia Müller, die die „Schmökerkiste“ am Freitag besuchte.

Müller war nach Würzburg gekommen, um sich über die Arbeit der Caritas und des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) zu informieren. Die in einem Bauwagen eingerichtete „Schmökerkiste“, in der Menschen in prekären Lebenslagen gebrauchte Bücher verkaufen, wurde ihr als soziales Vorzeigeprojekt aus Würzburg präsentiert, das es so kaum irgendwo sonst in Bayern gibt. Nur noch in Nürnberg existiert eine ähnliche Initiative.

„Sie werden Menschen, die sich dafür interessieren, ihre Geschichte erzählen.“

Bayernweit einmalig wird die „Schmökerkiste“ durch ein neues Teilprojekt, das in etwa einem Monat an den Start gehen wird. „Bei uns kann man dann lebende Bücher ausleihen“, berichtete Paul Lehrieder, Vorsitzender des Fördervereins. Als „lebende Bücher“ werden nach den Worten des CSU-Bundestagsabgeordneten diejenigen Personen fungieren, die seit vier Jahren in der „Schmökerkiste“ Bücher verkaufen.

Verkäufer erzählen ihre Geschichte

„Sie werden Menschen, die sich dafür interessieren, ihre Geschichte erzählen“, erläuterte Miriam Kunz, Würzburger Medizinstudentin, die das neue Teilprojekt der „Schmökerkiste“ leitet. Mehrere Buchverkäuferinnen und Buchverkäufer haben bereits ihr Interesse bekundet, sich an der ungewöhnlichen Initiative zu beteiligen. Auch Anja Dyes ist bereit, von sich zu erzählen, damit Menschen, die davon nicht betroffen sind, begreifen, was es bedeutet, schwer psychisch krank zu sein.

Dyes leidet an einer Psychose: „Das wurde diagnostiziert, als ich 24 Jahre alt war.“ Die Erkrankung machte sie extrem dünnhäutig: Die freundliche Frau, die Besucher der „Schmökerkiste“ aufgrund ihres literarischen Know-Hows stets kompetent berät, ist nicht imstande, längere Zeit Stress, Konkurrenzgerangel oder gar Mobbing zu verkraften. Doch genau das hatte sie schon in der Schule und später an verschiedenen Arbeitsstellen erlebt. So kam es, dass sie trotz eines hervorragenden Berufsabschlusses keinen guten Posten fand. Heute lebt sie von einer kleinen Rente.

Auch Ernst Kistner, der in der „Schmökerkiste“ Romane und Sachbücher verkauft, ist bereit, als „Lebendes Buch“ von sich zu erzählen. Wobei er noch nicht sicher ist, was er künftigen Zuhörern, die ihn „ausleihen“ möchten, zumuten wird: „Denn was ich erlebt habe, ist einfach zu hart.“ Das betrifft vor allem seine Jugend. Die Mutter, erzählt er, starb bei der Geburt. Der Vater verhielt sich brutal dem Sohn gegenüber, fast jeden zweiten Tag sei er durchgeprügelt worden: „Ich war blau und grün, alle Farben konnte man als Kind an mir sehen.“

Bei so schlechten Startchancen wundert es nicht, dass es auch Kistner nicht schaffte, beruflich Fuß zu fassen. Heute lebt er von Hartz IV. Durch einen Hausmeisterjob verdient er sich ein paar Euro hinzu. Zweimal im Monat ist er in der „Schmökerkiste“ tätig.

Eine sinnvolle Tätigkeit geben

Menschen, die es im Leben gebeutelt hat, eine sinnvolle Tätigkeit zu geben, die sie in Kontakt mit ganz „normalen“ Leuten bringt und dadurch Selbstvertrauen vermittelt, ist Hauptziel des Projekts, das 2013 an den Start ging. Dieses Ziel wurde auch erreicht. Anja Dyes, Ernst Kistner und die anderen Verkäuferinnen und Verkäufer kommen durch ihren Job mit Menschen aus allen Schichten in Berührung. Am Freitag begegneten sie sogar Staatsministerin Emilia Müller, die sich von Anja Dyes den Wagen voller Bücher zeigen ließ.

Das war ungewöhnlich und aufregend, wobei es das Team der „Schmölerkiste“ eigentlich gewohnt ist, dass sich Prominenz am Bauwagen zeigt. Bischof Friedhelm Hofmann zum Beispiel, der ebenfalls am Besuch von Emilia Müller teilnahm, stöbert öfter in der „Schmökerkiste“: „Gekauft habe ich bisher nur deshalb nichts, weil ich gerade dabei bin, meine Bibliothek zu halbieren.“ Würzburgs Kämmerer Robert Scheller erstand unlängst Jacob Burckhardts „Geschichte der Renaissance in Italien“ in der „Schmökerkiste“. Domkapitular Clemens Bieber erwarb vor nicht langer Zeit ein Kochbuch, das er weiter verschenkt habe, wie er sagt.

Finanzierung gestaltet sich schwierig

Dass es die „Schmökerkiste“ gibt, ist dem Sozialministerium zu verdanken. Das finanzierte das Vorläuferprojekt „artGerecht“ zwischen 2009 und 2011 mit jährlich 30 000 Euro. „Ohne diese Anschubfinanzierung wären wir nie so weit gekommen“, betonte Lehrieder gegenüber Emilia Müller.

Seit 2013 kämpft der Förderverein nun darum, die Initiative, die, je nachdem welche Teilprojekte realisiert werden, zwischen 5000 und 10 000 Euro jährlich kostet, langfristig abzusichern. Was Lehrieder zufolge nicht leicht ist: „Finanziell bewegen wir uns immer auf dünnem Eis.“ Dank eines Zuschusses vom Würzburger Sozialreferat ist immerhin die Finanzierung für das laufende Jahr sichergestellt.

 
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