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WÜRZBURG
Schätze für die Zukunft: Die Weisheit der Alten
Der Altersforscher Professor Reimer Gronemeyer.
Foto: Reimer Gronemeyer | Der Altersforscher Professor Reimer Gronemeyer.
Claudia Kneifel
 |  aktualisiert: 02.04.2019 10:08 Uhr

Ausgegrenzt, stigmatisiert, als „Aussätzige“ behandelt: Alte Menschen fühlen sich in der heutigen Leistungsgesellschaft immer mehr an den Rand gedrängt. Jeder fünfte Deutsche ist der Ansicht. er werde wegen seines Alters benachteiligt. Übergangen wird dabei, dass „die Alten“ Hüter übersehener Schätze und wertvollen Wissens sind, sagt Reimer Gronemeyer.

Der 79-Jährige ist Theologe, Soziologe und Buchautor. Er arbeitete als Pfarrer in Hamburg und ist Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. In seiner Forschung beschäftigt er sich vor allem mit den Fragen des Alterns. Sein neustes Buch „Die Weisheit der Alten. Sieben Schätze für die Zukunft“ (Herder Verlag) beschäftigt sich mit den Vorzügen des Älterwerdens. Er liest am Donnerstag, 7. Juni, um 19 Uhr im Pfarrheim St. Laurentius in Marktheidenfeld aus seinem Buch.

Frage: Im Juli werden Sie selbst 80 Jahre alt.

Was sind für Sie die größten Herausforderungen des Altwerdens?

Reimer Gronemeyer: Zuerst einmal muss man sagen, dass es alten Menschen lange nicht so gut gegangen ist wie heute – finanziell, gesundheitlich und sozial. Eine der großen Herausforderungen des Alters ist die Einsamkeit, das Alleinsein. In unserer flexibilisierten Gesellschaft lebt man oft weit weg von seiner Familie und seinen Kindern. Das trifft auf immer mehr alte Menschen zu, die alleine leben und wenig Kontakte haben – und das kann einen sehr unglücklich machen. Und immer wieder kommt die Furcht, dass man plötzlich hilfsbedürftig oder pflegebedürftig werden könnte. Das kann eine negative Grundstimmung heraufbeschwören.

Eines Ihrer Bücher trägt den Titel „Altwerden ist das Schönste und Dümmste, was einem passieren kann“. Was ist das Schöne am Altern?

Gronemeyer: Heute, im Zeitalter der Jugendlichkeit, ist das ein bisschen schwer zu sehen. Für mich bietet das Alter die Möglichkeit der Gelassenheit und der Vertiefung. Ich bilde mir ein, dass ich heute mit einer anderen Tiefe und Ergriffenheit Musikstücke hören, Natur erleben oder ein Bild im Museum betrachten kann als in jüngeren Jahren. Natürlich steht nicht zur Debatte, dass man gleichzeitig auch mit der Mühsal des Älterwerdens zu tun hat. Aber es gibt eben auch etwas, das einem neue, schöne Seiten des Lebens eröffnet.

„Alte werden nicht wertgeschätzt. Und schlimmer: Oft kaum wahrgenommen“, kritisierte die Schauspielerin Thekla Carola Wied. Ist da etwas dran?

Gronemeyer: Es gibt viele alte Menschen, denen es finanziell sehr gut geht und alte Menschen haben durchaus auch Macht. So werden die Wahlen in Deutschland hauptsächlich von den Alten entschieden. Andererseits wird das Wissen der Alten nicht mehr richtig weitergegeben. Das, was unsere Gesellschaft ausmacht, ist die Kompetenz und Kenntnis der Jüngeren. Das ist sehr schade.

Sie schreiben, die Alten sind Hüter vergessener Schätze. Welche Schätze sind das?

Gronemeyer: Früher haben die Alten etwas bedeutet: Sie wussten, wann man was aussät oder ob bestimmte Wolken Regen bringen. Das ist nun alles hinfällig. Wir haben die neue Situation, dass den Alten unablässig gesagt wird: „Wir brauchen das, was ihr gelernt habt, nicht.“ Das ist ein ziemlicher Schlag. Die Tatsache, dass den alten Menschen unablässig gesagt wird, dass ihre Erfahrung und ihr Wissen nichts mehr wert sind, ist sicher auch ein Grund dafür, dass so viele Menschen im Alter ihren Verstand an der Garderobe abgeben.

Fehlt den Alten also das Gebrauchtwerden?

Gronemeyer: Weiter zu arbeiten, weiter zu denken und weiter zu lehren bietet sich an – aber nicht für jeden. Gut ist es, sich weiter in die Gesellschaft einzumischen und dabei zu bleiben. Viele ältere Menschen engagieren sich ehrenamtlich, das tut ihnen und der Gesellschaft gut. Ein Beispiel: Menschen, die Erfahrungen im Anbau von Nahrungsmitteln haben – egal ob auf dem Balkon oder im Garten – könnten ihr Wissen weitergeben. Denn das Thema „Wie ernähre ich mich“ wird eines der spannendsten Themen der Zukunft sein, und da könnten die Alten einiges dazu beitragen.

Neben Mut, Erinnerungen und Erfahrungen zählt auch die Liebe zu Ihren Schätzen des Alters. Wie meinen Sie das?

Gronemeyer: Natürlich kann man von den Alten auch viel über den Umgang mit Beziehungen lernen. Wenn man auf das Geflatter der jungen Leute schaut, wie sie heute mit Hilfe von Apps wie Tinder versuchen eine verlässliche Beziehung zu bekommen, dann könnte man da sicher etwas von der älteren Generation lernen. Wie habt ihr das früher gemacht? Welche Konflikte gab es? Welche Werte waren wichtig? Das könnte zwischen jung und alt mal wieder zum Thema werden.

Was sind Schätze, die Sie persönlich weitergeben?

Gronemeyer: Ich plädiere für mehr Gelassenheit, Distanz zu Konsumismus und empfehle, mehr Zeit für Nachdenklichkeit einzuplanen. Fragen wie „Was bin ich?“, „Wer bin ich?“, „Was ist der Sinn des Lebens“ werden in der jugendlichen Geschäftigkeit oft an den Rand gedrängt. Jungen Leuten sagen ich daher: Schau, wo deine Gefühle sind. Schau, was die Gesellschaft mit dir macht.

Fühlen Sie sich selbst eigentlich alt?

Gronemeyer: Wenn ich in meinen Pass gucke, dann wundere ich mich, dass ich in ein paar Wochen 80 werde. Mein Lebensgefühl ist ein ganz anderes. Ich bin sehr offen für alles Neue, weil ich mir schon bewusst bin, dass es vielleicht das letzte Mal sein könnte. Gegenwärtigkeit ist das Geheimnis. Ich lebe viel mehr im jetzigen Moment.

Wären Sie gerne noch einmal jung?

Gronemeyer: Es gibt diese Augenblicke, wo man sich wünscht, noch einmal 18 zu sein. Aber ich finde mich mit dem Alter, in dem ich mich befinde, ab. Es ist manchmal traurig, aber ich akzeptiere es. Auch Einschränkung, Schmerz und Krankheit gehören zum Alterungsprozess. Sie können einen sensibler machen. Damit muss man sich arrangieren.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Gronemeyer: Um es mit Leonard Cohen zu sagen, ich hoffe, dass der Abschied ein sanfter wird, vor allem hoffe ich, dass ich mich noch verabschieden kann.

Sie machen vielen Älteren Mut und sagen, dass das Alter auch viele schöne Seiten hat...

Gronemeyer: Je älter man wird, desto mehr besteht die Chance, die Schönheit des Lebens auch wahrzunehmen. So genieße ich heute jeden Sonnenuntergang, ich nehme Gedichte ganz anders wahr und damit bin ich glücklich.

 
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