Ledergebundene Protokollbücher des Stadtrats aus dem Mittelalter, Pergamente mit Siegelabdrücken von Päpsten und Kaisern – das Stadtarchiv in der Neubaustraße ist vor allem für seine uralten Schätze bekannt. Jetzt erhielt Archivleiter Ulrich Wagner ein Zeitdokument aus der Nachkriegszeit, die rot-goldene Schärpe der ersten „Miss Würzburg“ aus dem Jahr 1948.
„Das ist eine tolle Ergänzung für ein künftiges stadthistorisches Museum“, sagte Wagner, als ihm Ilse Schiborr (86) die Schärpe samt Perlenkette überreichte. „Solche privaten Gegenstände bekommt ein Archiv in der Regel überhaupt nicht“.
Die erste „Miss Würzburg“-Wahl ging im Oktober 1948, also vor genau 65 Jahren, in den Huttensälen über die Bühne. Ilse Schiborr, die den 16. März 1945 in einem Bunker am Letzten Hieb erlebt hatte, war damals 21 Jahre alt und wohnte mit Mann, drei Monate alter Tochter und Mutter in einem kleinen Zimmer.
Die Mutter hatte sie überredet, zur Wahl zu gehen, einem der ersten gesellschaftlichen Ereignisse im noch weitgehend zerstörten Würzburg. Als die 21-Jährige eine Eintrittskarte kaufen wollte, sagte die Frau an der Kasse zu ihr: „Ich hätte Sie aber sehr gern als Mitwirkende, nicht als Zuschauerin.“
„Ich war vorher noch nie auf einem Laufsteg gewesen“, berichtete Ilse Schiborr dem Archivleiter. „Und ich hatte auch nur ein einziges Kleid für solch einen Anlass, ein ,kleines Schwarzes’, dazu eine Jacke, die aus einer Wehrmachtsdecke geschneidert war.“ Dem Publikum und der Jury gefiel ihr Auftritt – im prüden Würzburg natürlich noch nicht im Badeanzug – und Ilse Schiborr gewann den Wettbewerb, was sie selbst am meisten überraschte. Dann ging alles ganz schnell: Das Publikum klatschte und der Veranstalter, ein Vertreter der Strumpffirma Opal, heftete die Schärpe an ihre Jacke, drückte ihr einen Strauß weißer Chrysanthemen in den Arm und legte ein doppelreihiges Perlencollier um ihren Hals.
Der Abend hatte langfristige Auswirkungen: Ilse Schiborr arbeitete zeitweise als Mannequin; noch vor wenigen Jahren stellte sie im Altenwohnheim „Miravilla“ Mode für die ältere Dame vor. Dass die Perlen nicht echt waren, merkte sie erst viel später, „aber das berührte mich eigentlich gar nicht so“. Auch Ulrich Wagner ist der materielle Wert des Colliers, das jetzt in den Besitz des Archivs überging, egal. Für ihn ist es wie die Schärpe ein wertvolles Symbol für den wiederkehrenden Lebensmut der Würzburger in der Nachkriegszeit.
Buchtipp: Ilse Schiborrs Erlebnisse vor dem 16. März 1945, während des Bombenangriffs und in der Nachkriegszeit sind im Buch „Zukunft, die aus Trümmern wuchs. 1944 bis 1960. Würzburger erleben Krieg, Zerstörung und Wiederaufbau“ nachzulesen, das in den Main-Post-Geschäftsstellen zu haben ist.