Glaubt man Ilonas Bericht, dann dürfte die Bevölkerung rund um den rumänischen Ort Hermannstadt in den Frühjahrs- und Sommermonaten reichlich dezimiert sein: „Wer arbeiten kann“, sagt Ilona, „kommt hierher.“ Wer arbeiten kann, steckt spätestens Ende März sein Handy in die Tasche, stopft Arbeitskleidung in den Koffer, legt Fotos von den Kindern dazu. Nimmt dann den Überlandbus westwärts – und landet nach langer Fahrt vielleicht im unterfränkischen Allersheim, fünf Kilometer östlich von Giebelstadt im Landkreis Würzburg. Auf dem Hof der Kuhns. So macht es Ilona. Sie arbeitet seit zwölf Jahren als Saisonarbeiterin und hat es mittlerweile zur Vorarbeiterin gebracht.
Ilona verschweigt ihren Nachnamen, aber sie erzählt in gut verständlichem Deutsch, dass sie 55 Jahre alt ist und zwei erwachsene Söhne hat. Früher hat sie in Hermannstadt in einer Glasfabrik gearbeitet, so lange, bis sie über eine Bekannte erfuhr, wie viel man in Deutschland mit Erntearbeit bekommen kann. „Mehr als ich das ganze Jahr in der Fabrik verdient habe“, sagt Ilona. Sie ist sehr zufrieden mit ihren Arbeitgebern, den Kuhns. Die Bezahlung sei in Ordnung, die Arbeitsabläufe seien geregelt, die Unterkünfte in den Containern und auf dem Hof seien „sauber“ und die Kuhns seien „nette Leute“.
Ilona findet es ganz besonders wichtig zu erwähnen, dass der Chef „niemals schreit“.
Weil die Arbeitsbedingungen auf dem Kuhnschen Hof aus Ilonas Sicht offenbar deutlich über dem Durchschnitt liegen, hat sie ihren Mann, ihre Schwiegertochter und ihre Nichte motiviert, mitzukommen. Bis Ende Juni, Anfang Juli will die Familie bleiben, über die ganze Spargel- und Erdbeersaison hinweg.
38 Frauen und 70 Männer aus Rumänien arbeiten derzeit auf dem Hof der Kuhns. Die Männer gehen meist „in den Spargel“, die Frauen „in die Erdbeeren“. Ilona sagt, sie finde den Job von der Belastung her okay. Wie die anderen Saisonarbeiterinnen steht sie früh auf, ist um sechs Uhr auf dem Erdbeerfeld. Pflückt mit gummibehandschuhten Händen stundenlang die Früchte – ob unter gleißender Sonne oder wolkenbehangenem Himmel. Während der Feldarbeit kauert sie, ist gebückt oder kniet. „Nicht so schlimm. Zwei, drei Tage merkt man den Rücken; dann hat man sich daran gewöhnt.“
Wieviel pro Stunde geerntet werden muss, hängt laut Seniorchef Georg Kuhn auch vom Wetter ab – üblich sei aber ein Arbeitssoll von fünf bis zehn Kilo bei Spargel und elf Kilo bei den Erdbeeren. Pro Stunde, versteht sich. Elf Kilo Erdbeeren – das bedeutet, dass die Saisonarbeiterin in einer Stunde 22 leere 500-Gramm-Plastikkörbchen befüllt, wie man sie von den Erdbeerständen kennt.
Während der Saison arbeiten die Erntearbeiter bis zu zehn Stunden am Tag und damit 50 bis 60 Stunden die Woche. Laut Seniorchefin Elvira Kuhn muss ein Tag pro Woche nach Arbeitszeitgesetz frei sein. Auf dem Hof der Kuhns werde diese Vorgabe eingehalten. Sie missfällt aber Saisonarbeiterin und Chefin gleichermaßen. „Speziell bei den Männern ist der freie Tag problematisch. Manche trinken zu viel“, sagt die Seniorchefin. Und die Saisonarbeiterin sagt: „Wir sind zum Arbeiten gekommen. Was sollen wir Pause machen?“
Eine Arbeit, die aus Sicht der 55-jährigen Rumänin machbar ist, ist aus Sicht deutscher Arbeitsloser viel zu hart. So berichtet es Elvira Kuhn. „Vor ein paar Jahren mussten wir deutsche Arbeitslose nehmen – eine Katastrophe. Manche haben abgesagt. Andere konnten den Job nicht.“ Mit Schrecken denkt Kuhn zurück an einen Mann, der sich die Arbeitsschritte am Spargelsortierband – einer der einfachsten Arbeiten – einen ganzen Tag in ein Heft notiert habe, nur um dann zu erklären, dass er den Job nicht schaffe. „Zum Glück“, sagt Elvira Kuhn, sei derzeit in Deutschland Hochkonjunktur, entsprechend wenig Arbeitslose müsse die Arbeitsagentur vermitteln. Die Pflicht, deutsche Arbeitslose in der Ernte einzusetzen, bestehe derzeit nicht.
In diesem Jahr steht Ilonas Schwiegertochter am Band. Wie die anderen jungen Frauen neben ihr trägt sie Haube und Gummischürze. Sie begutachtet die nassen Spargelstangen auf dem Band, pickt ab und zu Ausschussware zum Nachsortieren heraus und wirft sie in einen Korb. Überfordert wirkt sie nicht.
Seniorchef Georg Kuhn sagt, ihm täten manchmal die jungen rumänischen Frauen leid, die für den Job in Deutschland ihre Kinder zurücklassen, sie in die Obhut der Großmutter oder Tante geben und monatelang von ihren Kleinen nicht mehr sehen als die an die Unterkunftswand gepinnten Kinderfotos.
Gleichzeitig betont er aber, dass er ohne die rumänischen Saisonarbeiterinnen und Arbeiter seine 25 Hektar Spargeläcker und seine acht Hektar Erdbeerfelder nicht abernten könne. Kuhn sagt, er bezahle seine Arbeiter sozialversicherungspflichtig und zahle den Leuten, die übers Arbeitssoll pflücken, einen Bonus von einem Euro oder einem Euro fünfzig pro Stunde. „Man muss die guten Leute halten; wir wollen ja, dass sie wiederkommen“, sagt er. Um seine Leute zu halten, beschäftige er sie auch zur Kürbisernte im Herbst.
Obwohl der Betrieb derzeit gut läuft, blickt der Seniorchef, 64 Jahre alt, nicht optimistisch in die Zukunft. „Ob der Anbau in Zukunft noch so existieren kann wie wir es heute machen, ist zweifelhaft“, sagt er. Was Kuhn Bauchschmerzen macht, ist – der Mindestlohn, der 2015 in Deutschland eingeführt wurde: „Früher haben die Saisonarbeiter sechs Euro die Stunde bekommen, heuer müssen sie 8,84 Euro bekommen“. Weitere Mindestlohn-Steigerungen in der Zukunft? Nicht ausgeschlossen. „Kommt drauf an, wer im Herbst dann regiert“, grummelt Kuhn.
Kuhn zufolge sind die Produktionskosten auf seinem Hof nach der Einführung des Mindestlohns deutlich gestiegen. Die Kuhns leben von der Direktvermarktung; bezahlen also zusätzlich zu den Saisonarbeitern noch heimische Kräfte – meist Hausfrauen mit Schulkindern –, die die rund 25 Spargelverkaufsstände des Betriebs besetzen. „Wenn die Produktionskosten hoch sind, müssen wir die Vermarktungskosten senken“, erklärt Kuhn. Für ihn bedeutet das, dass eventuell zukünftig einige der „schwächeren“ Spargelverkaufstände geschlossen werden müssten. Auf jeden Fall sei seit der Einführung des Mindestlohns die Gewinnspanne für die Landwirte kleiner.
Bei manchen Früchten lohnt sich aus Sicht deutscher Landwirte der Gemüseanbau nicht mehr. Gurken etwa werden seit Einführung des Mindestlohns nur noch wenig angebaut, die Produktion gilt als zu teuer. Deshalb ist laut dem Pressesprecher des Bayerischen Bauernverbands, Markus Peters, die Zahl der Saisonarbeiter in Bayern heuer auch eher zurückgegangen als gestiegen. Nach letzten belastbaren Zahlen aus 2013 kommen pro Jahr rund 33 000 Saisonarbeiter aus den osteuropäischen Ländern für die Erntearbeit nach Bayern.