Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen sind 400.000 Senioren in Deutschland suchtkrank. Die Dunkelziffer, so vermuten Experten, ist wohl viel höher. Alkohol, Tabak, Medikamente, Fernsehen oder Glücksspiel kommen im Alter oft als "Tröster" daher. Doch wo liegt die Schwelle von normalem Genuss zu abhängigem Konsum? Was sind die ersten Anzeichen von Sucht?Was tun, wenn Angehörige sich verändern?
Experten von Diakonie und Caritas standen unseren Lesern bei einer Telefon-Aktion Rede und Antwort. Alle Anrufe wurden absolut vertraulich behandelt. Die Fragen wurden so gestellt oder zumindest ähnlich. Am Telefon waren Karina Bauer, Leiterin des Blaukreuz-Zentrums in Würzburg, Andreas Fritze, Diakon und Altenheimseelsorger in Würzburg, Claudia Kaufhold, Pressereferentin der Diakonie, und Sina Wunderle, Suchttherapeutin bei der Caritas Suchtberatung in Würzburg.
Warum ist Sucht gerade im Alter ein Problem?
Claudia Kaufhold: Schwierige Lebenslagen, wie das Alter es sein kann, können bestehende Suchtproblematiken verstärken. Hier beginnt ein stiller Teufelskreis: Sucht wirkt negativ auf das soziale Umfeld. Die Kontakte verringern sich weiter, die Spirale der Isolation dreht sich immer schneller, die Betroffenen kommen aus eigener Kraft kaum mehr aus ihr heraus. Menschlicher Trost und vor allem Lebensaufgaben senken die Attraktivität von Suchtmitteln.
Sind eher Männer oder Frauen anfällig für Sucht im Alter?
Claudia Kaufhold: Bei Alkoholabhängigkeit überwiegen männliche Betroffene gegenüber weiblichen. Demgegenüber sind unter den Menschen, die erst im Alter eine Suchterkrankung entwickeln, mehrheitlich Frauen. Hier überwiegt die Abhängigkeit von Medikamenten, vor allem von Schlaf- und Beruhigungsmitteln.
Warum werden Suchtprobleme im Alter oft so spät erkannt?
Claudia Kaufhold: Abhängigkeiten bei älteren Menschen sind schwer zu erkennen, weil Suchtsymptome den typischen Begleiterscheinungen des Alters entsprechen können. So können Stürze, nachlassende körperliche Leistungsfähigkeit, Schwindel, Antriebs- und Interessenlosigkeit oder Stimmungsschwankungen Zeichen einer Sucht sein, aber auch normale Anzeichen von Altersschwäche. Da viele Menschen im Alter einsam sind, fallen Abhängigkeiten weniger auf. Noch dazu wird Sucht im Alter gesellschaftlich kaum thematisiert.
Seit mein Vater (67) in Rente ist, trinkt er fast jeden Abend Bier. Wann spricht man beim Alkohol von Sucht?
Sina Wunderle: Da Ihr Vater schon 67 Jahre alt ist, ist sein täglicher Alkoholkonsum im riskanten Bereich. Gesundheitlich unbedenklich ist lediglich ein Glas Bier am Tag, an fünf Tagen pro Woche. Empfohlen werden wenigstens zwei alkoholfreie Tage. Wenn Ihr Vater Probleme hat, seinen Alkoholkonsum zu reduzieren, könnte eine Abhängigkeit vorliegen. Er kann sich zur Abklärung an eine Beratungsstelle wenden.
Meine Mutter (83) trinkt gerne mal ein Gläschen Sekt oder Wein. Wie viel Alkohol darf man mit gutem Gewissen trinken?
Sina Wunderle: Im Alter von 83 Jahren wirkt Alkohol stärker und wird vom Körper viel langsamer abgebaut als in jungen Jahren. In diesem Alte nehmen viele Menschen noch Medikamente ein, die sich selbst mit geringen Alkoholmengen nicht vertragen. Für gesunde junge Menschen gilt: Fünfmal pro Woche ein Standardglas Wein, Bier oder Sekt (o,1 Liter) bei Frauen und zwei Standardgläser bei Männern gelten als gesundheitlich unbedenklich.
Mein Mann trinkt deutlich mehr als zwei Gläser Bier am Tag. Ich denke, dass er ein Alkoholproblem hat. Was kann ich tun? Und wo bekomme ich Hilfe?
Sina Wunderle: Kommen Sie mit Ihrem Mann ins Gespräch, indem Sie Ihre Sorgen mitteilen. Sagen Sie konkret: "Ich mache mir Sorgen um deinen Alkoholkonsum!" Zusätzlich holen Sie am besten professionelle Hilfe. Beim Hausarzt, bei einer Beratungsstelle oder in einer Selbsthilfegruppe für Angehörige. Achten Sie dennoch auch auf Ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle. Definieren Sie, wo Ihre Grenzen liegen, was Sie bereit sind zu tragen – und was nicht. Seien Sie hier klar und konsequent. Sprechen Sie mit einer Fachperson darüber, wie Sie beim nächsten Absturz vorgehen können, und bereiten Sie ein entsprechendes Netzwerk vor. Sagen Sie dem Partner zum Beispiel: "Beim nächsten Absturz alarmiere ich den Arzt und übertrage ihm die Verantwortung."
Meine Mutter (76) lebt alleine und ich wohne in einer anderen Stadt und kann sie nicht oft besuchen. Welche Rolle spielt Einsamkeit beim Thema Sucht?
Diakon Andreas Fritze: Vermutlich spielt Einsamkeit eine große Rolle. Frauen sind aber offener für Gemeinschaftsangebote von Gemeinden. Sie sind besser auf den Ruhestand vorbereitet und erschließen sich neue Lebensinhalte. Männer gelingt das oft nicht so gut. Generell ist es wichtig, die Ursachen für Sucht herauszufinden – Einsamkeit alleine ist es wohl nicht. Hier sind Familie,Freunde Bekannte, Nachbarn und Gesellschaft gefragt, damit ältere Menschen nicht auf der Strecke bleiben.
Was wird im Pflegeheim getan, um Süchte zu verhindern?
Diakon Andreas Fritze: Die wenigsten Süchte entstehen im Pflegeheim. Auf die Bedürfnisse wie Rauchen und Alkoholgenuss wird eingegangen, soweit es medizinisch und rechtlich vertretbar ist und kein aggressives Verhalten auftritt. In Einrichtungen gibt es ohnehin strengere Regeln für Rauchen oder Alkoholgenuss als in der Selbständigkeit zuhause. Eine vorhandene Sucht kann im Pflegeheim oft nicht mehr therapiert werden. Zudem ist eine Medikamentenüberprüfung ratsam, um Abhängigkeiten möglichst zu verhindern, jedoch hat zum Beispiel Schmerzbekämpfung immer Vorrang.
Was muss getan werden, um älteren suchtkranken Menschen früher zu helfen?
Diakon Andreas Fritze: Es ist wichtig, familiären Zusammenhalt zu stärken und Gemeinschaftsangebote zum Beispiel in Vereinen und Kirchengemeinden anzubieten. Auch Seelsorger können hier unterstützen. Ehrenamtliche Besuchsdienste können Alleinstehende begleiten, soweit sie das möchten. Die Situation wahrnehmen und auf Hilfen hinweisen. Auch Angehörige brauchen eine Anlaufstelle, die sie auf Hilfsmöglichkeiten hinweist.
Mein Vater (63) hat sich zu einem Alkoholentzug entschieden. Wie sieht ein solcher Entzug aus und bezahlt das die Krankenkasse?
Karina Bauer: In einer Suchtberatungsstelle werden Sie und Ihr Vater zum richtigen Vorgehen beraten und begleitet. Der rein körperliche Alkoholentzug wird in einer Klinik durchgeführt. In der Regel dauert der stationäre Aufenthalt 14 Tage und wird medikamentös begleitet. Im Anschluss daran ist eine Reha sinnvoll, damit auch für die psychische Stabilität und Alltagsbewältigung ohne Alkohol gesorgt wird. Wir helfen Ihnen auch mit dem Antrag und klären die Finanzierung.
Meine Mutter (73) ist an Brustkrebs erkrankt und muss seitdem sehr viele Medikamente einnehmen. Welche Medikamente machen besonders schnell abhängig?
Karina Bauer: Vor allem Medikamente zur Schmerzbehandlung, wie Opioide machen schnell abhängig. Sie wirken auf das zentrale Nervensystem und verhindern Schmerzimpulse. Schlaftabletten und Medikamente aus der Gruppe der Benzodiazepine (zum Beispiel Zolpidem, Zopiclon oder Zaleplon) bergen eine hohe Gefahr für Abhängigkeit. Auch Barbiturate sind bei langer Einnahme und hoher Dosis abhängigkeitserzeugend. Wichtig ist immer, sich an die verschriebene Dosis zu halten und bei körperlicher und psychischer Veränderungen direkt mit dem Arzt darüber zu sprechen.
Warum helfen Ärzte oder Apotheker nicht besser, solche Süchte zu verhindern?
Karina Bauer: Ärzte weisen durchaus auf die Risiken hin, genauso wie Mitarbeitende in Apotheken und auch in den Beipackzetteln findet man entsprechende Hinweise. Für beide Berufsgruppen ist es schwer nachzuvollziehen, welche Medikamente über welche Dauer eingenommen werden. Viele Patienten wechseln die Ärzte und variieren bei den Apotheken. Eine medikamentöse Therapie bei Schlafstörungen und starken Schmerzen macht ja auch durchaus Sinn. Leider fehlt gerade Ärzten oft die Zeit sich mit den Problemen ihrer Patienten auseinanderzusetzen und somit vielleicht Hinweise auf psychische Probleme zu finden und entsprechende Vermittlungen einzuleiten. Das Thema ist sehr komplex und nicht alle Patienten entwickeln eine Abhängigkeit.