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Würzburg
Prothese: Die Würzburger Studentin Greta und ihre (r)echte Hand
Sie macht alles mit links, fühlt sich nicht behindert und sagt: Anders zu sein als die Norm ist gut!  Warum sich Greta Niewiadomski trotzdem für eine Prothese entschied.
Entstanden beim Shooting mit der Würzburger Fotografin Eva Sitko: Porträt von Greta Niewiadomski mit ihrer Handprothese.
Foto: Eva Sitko/The Grapheca | Entstanden beim Shooting mit der Würzburger Fotografin Eva Sitko: Porträt von Greta Niewiadomski mit ihrer Handprothese.
Alice Natter
 |  aktualisiert: 11.02.2024 10:52 Uhr

Als sie im Kindergarten das Schuhebinden lernten und es bei ihr einfach nicht klappte mit diesen Bändeln, war sie erst recht motiviert. Abends daheim übte und übte sie. Und am nächsten Tag, im Kindergarten, konnte sie die Schlaufen – als einzige. Heute sagt Greta Niewiadomski: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich die Schnürsenkel mit zwei Händen binden muss."

Greta Niewiadomski bindet ihre Schuhe nur mit links. So wie sie mit einer Hand Fahrrad quer durch Deutschland fährt, Fingernägel schneidet, segelt, kocht oder nach dem Abitur den Führerschein und ein Praktikum in der Psychiatrie macht . . . Wieso auch nicht? Die 20-Jährige stellt sich die Frage gar nicht erst: "Ich habe nicht das Gefühl, dass mir etwas ‚fehlt‘."

Normales Leben - trotz Behindertenausweis

Greta Niewiadomski ist in Bremen aufgewachsen, studiert seit Herbst in Würzburg Psychologie. Und erzählt die Geschichte der Schuhbändel gern, um zu zeigen, was geht, wenn man nur probiert und will. Und dass das Leben völlig "normal" sein kann, auch wenn man selbst ein wenig von der Norm abweicht und einen Behindertenausweis hat.

Nachdenklich: Psychologiestudentin Greta Niewiadomski hat sich spät für eine Handprothese entschieden - weil sie 'eigentlich' keine braucht.
Foto: Eva Sitko/The Grapheca | Nachdenklich: Psychologiestudentin Greta Niewiadomski hat sich spät für eine Handprothese entschieden - weil sie "eigentlich" keine braucht.

Warum sie ohne rechte Hand auf die Welt kam? Die genauen Ursachen kennt man nicht, vielleicht hatte sich die Nabelschnur im Bauch um das Ärmchen gewickelt. Ihren Eltern sei die Selbstständigkeit ihrer Tochter jedenfalls immer wichtig gewesen, sagt Greta Niewiadomski. Sie lehnten besondere Förderangebote und Unterstützung ab. Sie achteten darauf, dass das kleine Mädchen keine Extras bekam, keine andere Aufmerksamkeit als der große Bruder. "Sie haben mich nie besonders gefördert. Ich durfte alles mitmachen, ich musste alles mitmachen."

"Ich durfte alles mitmachen, ich musste alles mitmachen."
Greta Niewiadomski über ihre Kindheit und die Haltung ihrer Eltern

Dass Greta alles mit links zu machen lernte, sich gut arrangierte mit ihrer einen Hand - für die Familie war das selbstverständlich, völlig "normal".  So wie es für Greta normal war, dass die anderen Kinder im Sandkasten eben fünf Finger mehr hatten als sie. "Hat ja weder mich, noch die anderen gestört." Und beim Fußballspielen, wo sie als Stürmerin über den Rasen flitzte und mit rechts Tore schoss, war es eh egal. Blockflöte spielen? Das wäre wohl nicht so einfach gegangen, sagt die Studentin lachend. "Aber das liegt nicht an der Hand, ich hab‘ musikalisch schlicht kein Interesse."

In der Schule aufgefallen mit der Dysmelie

In der Grundschule sei ihre Dysmelie dann schon mehr aufgefallen: "Da habe ich nicht selten auch von Lehrerinnen und Lehrern unangemessene Sprüche gehört." Und Sätze wie: "Schön, dass sie es trotzdem schafft." Trotz was?

Was sie am meisten störte, ärgerte und deshalb anspornte: "Wenn mir eine Fähigkeit im Vorhinein abgesprochen wurde oder man mir etwas nicht zugetraut hat. Weil ich mich selbst ja als normal und fähig empfunden habe." Statt Sachen bleiben zu lassen und gar nicht erst zu versuchen, machte Greta – mit gefördertem Ehrgeiz – sie gerade erst recht. Und häufig mit dem Gefühl, "besser sein zu müssen als alle anderen, um als gleichwertig angesehen zu werden".

Wenn andere Mitleid mit ihr haben – die Psychologiestudentin findet das bis heute seltsam. "Und schade. Das unterstellt ja, dass ich unter dem Fehlen der Hand leiden würde. Aber dieses Leid ist gar nicht da."

"Das unterstellt ja, dass ich unter dem Fehlen der Hand leiden würde. Aber dieses Leid ist gar nicht da."
Greta Niewiadomski über Mitleid

In der Schulzeit in Bremen dann wäre Greta gern wie alle anderen gewesen. Aber nicht, weil das Leben mit links anstrengend war. Nicht, weil sie sich eingeschränkt oder "behindert" gefühlt hätte mit dem verkürzten rechten Arm. "Sondern weil es anstrengender ist, durch irgendwas aufzufallen, was nicht ins Raster passt."

Nur, was heißt das, "normal" sein? Die Freundinnen und Freunde auf dem Gymnasium, die hätten "nicht die Behinderung, sondern den Menschen in mir" gesehen. Und seit der Pubertät, sagt Greta Niewiadomski, "hab‘ ich sogar eher von meiner Behinderung profitiert". Das klinge erst mal komisch. "Aber ab dem Zeitpunkt, an dem ich mich dafür entschieden habe, nichts zu verstecken und offen damit umzugehen, hab‘ ich von allen Seiten Respekt, Zuspruch und Anerkennung bekommen."

Nach dem Abi vor zwei Jahren dann: Führerschein und Halbjahrespraktikum in Münster in einer Psychiatrie. "Da habe ich mir am Anfang Sorgen gemacht, dass sich die sehr sensiblen Patientinnen und Patienten vor mir erschrecken könnten." Sie erlebte das Gegenteil: "Mein positiver Umgang mit der Dysmelie hatte für viele irgendwie Vorbildcharakter." Im März 2020 flog die 20-Jährige nach Island, trampte einen Monat lang um die ganze Insel, surfte bei Fremden von Couch zu Couch, geriet in Schneestürme und steckte während des Lockdowns im „Corona Refugee Camp“ in Reykjavík fest, bis sie nach einer aufreibenden Nacht am Flughafen einen Flug nach Amsterdam erwischte.

Ohne die Cyber-Hand kommt sie auch gut durchs Leben: Greta Niewiadomski.
Foto: Eva Sitko/The Grapheca | Ohne die Cyber-Hand kommt sie auch gut durchs Leben: Greta Niewiadomski.

Nach einem Monat häuslicher Isolation radelte Greta Niewiadomski, getrieben von der Reiselust, 800 Kilometer von Bremen nach Freiburg und schlief, mangels Hostels und Campingplätzen, nachts irgendwo draußen in der Natur im Zelt. "Das hat sich im Ruhrgebiet als sehr problematisch herausgestellt." Nach den Lockerungen der Corona-Maßnahmen ging’s noch ein bisschen weiter: mit dem Fahrrad nach Prag und mit Rucksack und Maske per Autostopp durch Südeuropa. Und mal eben zum Paragliden in die Alpen.

Dass ihr die rechte Hand fehlt? "Eine Behinderung ist ja nur ein Teil einer Person, eine Besonderheit, die erst einmal weder gut noch schlecht ist", sagt Greta Niewiadomski. Inzwischen freue sie sich darüber: "Ein wenig von der Norm abzuweichen, andersartig zu sein – in einer Welt, in der alle nach demselben ,perfekten' Ideal streben." Und es gebe "eigentlich nichts, was ich gern täte und was ich deswegen nicht tun kann".

Und jetzt sitzt sie in Würzburg beim Studium und hat diese Prothese, die so futuristisch aussieht und robotermäßig. Eine "Ersatzhand"? "Ich hatte das überhaupt nie mit mir in Verbindung gebracht", sagt Greta Niewiadomski. Bionische Prothesen, gedanklich gesteuert: "Nicht notwendig für mich und sicher sowieso viel zu teuer."

Dann sah sie zufällig einen Beitrag über die Prothesen des Medizintechnikherstellers Össur aus Island, blieb am Wort "limb difference", also "Abweichung", hängen. Und fühlte sich verstanden. "Anders, aber nicht ‚behindert‘!" In dem Össur-Beitrag sei es nicht darum gegangen, "Nachteile" auszugleichen. "Das war auf den Vorteil gerichtet. Als wäre eine bionische Handprothese cooler als eine gewöhnliche Hand."

Eine Handprothese der isländisch-internationalen Firma Össur mit physiologischem Griff: Die Finger der 'i-Digits™ Quantum' werden durch Muskelkontraktion in Bewegung gesetzt.
Foto: Össur | Eine Handprothese der isländisch-internationalen Firma Össur mit physiologischem Griff: Die Finger der "i-Digits™ Quantum" werden durch Muskelkontraktion in Bewegung gesetzt.

Was so eine Hand kosten würde? Die Überraschung für Greta Niewiadomski: "Die Kasse übernimmt komplett! Ich habe einen rechtlichen Anspruch darauf." Die Teilhandprothese von Össur schränke die Gelenksfunktion nicht ein,  lasse sich durch Gesten steuern und habe programmierte Griffe – „optimal für mich“. Bei ihrem Modell werden die Finger myoelektrisch, also durch Muskelkontraktionen im Arm, in Bewegung gesetzt, der Daumen ist manuell rotierbar. Bewegt die Trägerin die Prothese in eine bestimmte Richtung, wird ein automatisiertes Griffmuster abgerufen.

Der erste Antrag bei der Kasse war noch abgelehnt worden, der zweite klappte: Die Studentin erhielt vor zwei Jahren ihre "Hand" vom Hersteller mit Sitz in Frechen bei Köln individuell angefertigt, Kosten dafür: 70 000 Euro.

Sie habe einfach Lust bekommen, eine positive Botschaft damit zu verbreiten. Wenn sie – vor Corona-Zeiten – anderen begegnete, bot sie zur Begrüßung die linke und die rechte Hand an. Lieber einen weichen oder den metallischen Händedruck? Für das Gegenüber verwirrend, irritierend. "Irritation ist was Gutes! Man ist sofort im Gespräch."

Prothese in metallischem Schwarz - nicht hautfarben

Die Prothese mit der ziemlich komplizierten Technik wählte Greta Niewiadomski bewusst in schwarz, nicht hautfarben: "Ich will das nicht verstecken." Also das "nützliche Gadget, das keine richtige Hand ersetzen kann" offensiv zeigen. Die Wirkung auf andere? Kinder fragen neugierig nach, völlig fremde Menschen wollen Fotos mit ihr machen, an der Tür von Discos heißt es: "Das könnte als Waffe eingesetzt werden!" Und das örtliche Kino hat ihr einen Job als Kartenabreißerin für den Star-Wars-Film angeboten. "Plötzlich war das, was vorher eine Behinderung war, etwas Besonderes."

Praktisch fürs Fotografieren, Bilder-Aufhängen, Flaschenöffnen 

Und für sie selbst? Die 20-Jährige versteht ihre Prothese nicht als zweite Hand. "Ich habe mich ja vorher schon als vollständig empfunden." Die künstliche bionische Hand kann Griffmuster: Maus bedienen, Flasche öffnen, Auslöser der Kamera komfortabel bedienen. Und fürs Nagel in die Wand hauen ist sie praktisch.

Aber es geht eben auch alles ohne. Das Entscheidende für die Studentin: "Die Prothese hat mir dabei geholfen, den Fokus auf diese Besonderheit zu legen und stolz darauf zu sein." Greta Niewiadomski ist viel auf Instragram unterwegs, versucht auf den sozialen Kanälen andere mit ihrer Botschaft  zu erreichen. Zeigen, was geht, wenn man will. Wie beim einhändigen Schuhebinden.

Ein Foto-Model abseits einer Norm

Der Hamburger Segelclub hat die 20-Jährige entdeckt und ins Inklusions-Team eingeladen. Jetzt lernt Greta Niewiadomski Segel zu setzen und wird an der Inklusionsweltmeisterschaft teilnehmen. Und ein Hamburger Fotograf und auch die Würzburger Grafikerin und Fotografin Eva Sitko sind auf sie gestoßen bei der Suche nach Menschen mit Einzigartigkeiten, nach Models mit Besonderheiten. Sie haben die Studentin zum Fotoshooting eingeladen. Im Mittelpunkt der Porträts: nicht die (r)echte Hand. Sondern der Mensch. Greta.

Mehr über Greta Niewiadomski auf Instagram unter gretamariq.

 
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