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WÜRZBURG
Plötzlich ganz tief unten
Unterhaltung beim Gemüseschnippeln: Ein Besucher der Wärmestube erzählt Luise Schnaus, die bei der Christophorus-Gesellschaft ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert, seine Geschichte.
Foto: Günther Purlein | Unterhaltung beim Gemüseschnippeln: Ein Besucher der Wärmestube erzählt Luise Schnaus, die bei der Christophorus-Gesellschaft ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert, seine Geschichte.
rtg
 |  aktualisiert: 11.12.2019 20:02 Uhr

Warum landet jemand auf der Straße? Das hat sich Luise Schnaus bis vor kurzem oft gefragt. Heute kennt sie mehrere Gründe: „Dahinter stecken oft schwere Schicksalsschläge. Aber es gibt auch Menschen, die lieben einfach die Ungebundenheit.“ Seit September leistet die 19-Jährige ein Freiwilliges soziales Jahr (FSJ) bei der Würzburger Christophorus-Gesellschaft ab. Hier kommt sie mit Menschen in Kontakt, die für längere Zeit wohnungslos waren. Und andere, die im Gefängnis saßen.

Luise Schnaus ist kein materialistisch eingestellter Mensch, schreibt Günther Purlein, Geschäftsführer der Christophorus-Gesellschaft. Wichtiger als gleich nach der Schule Geld zu verdienen, war es ihr, Erfahrungen zu sammeln und künftige Berufsfelder auszutesten. Was sie bei der Christophorus-Gesellschaft erlebt, hat für die Absolventin der Waldorfschule unschätzbaren Wert: „Ich komme hier mit Schicksalen in Kontakt, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte.“

„Ich komme hier mit Schicksalen in Kontakt, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte.“

Luise Schnaus, FJS-lerin

Unter die Haut gehen ihr vor allem die Begegnungen mit den „schweren Jungs“ aus der Würzburger Justizvollzugsanstalt. Luise erfuhr von Taten, die sie selbst inakzeptabel findet: „Und doch muss man diesen Menschen helfen. Sonst werden sie rückfällig.“

Warum er zwei Monate lang unter freiem Himmel nächtigen musste, das erzählt Peter Meier (Name geändert) der jungen Frau an diesem Freitagabend beim gemeinsamen Gemüseschnippeln. Einmal im Monat sind die Klienten der Christophorus-Gesellschaft in die Wärmestube eingeladen, um zusammen ein leckeres Drei-Gänge-Menü zu kreieren und es anschließend an hübsch dekorierten Tischen zu genießen. Heute soll es vorab eine Kürbiscremesuppe geben, als Hauptspeise steht Putengeschnetzeltes mit einer Champignonsoße auf dem Menüplan. Eine bunte Salatschüssel wird dazu gereicht, als Nachtisch ist Apfelkuchen mit Schlagsahne vorgesehen.

Früher pflegte er oft zu kochen, erzählt Peter Meier der FSJ-lerin: „Wir waren fünf Kinder.“ Alle mussten daheim mithelfen. Gut sei es ihm damals gegangen, so der 60-Jährige. Sogar studieren durfte er. Meier ist diplomierter Sozialarbeiter, hatte einst verantwortungsvolle Stellen in der Jugendsozialarbeit inne.

Warum dann plötzlich alles kaputt ging? Der freundliche Mann denkt eine Weile nach und sagt dann: „Es war in erster Linie der Alkohol.“ Er habe nicht gemerkt, wie er psychisch und physisch abhängig wurde. Dann ging die Partnerschaft auseinander, Meier wurde arbeitslos, durch ein Haus kam es zu drückenden Schulden: „Und plötzlich zum totalen Absturz.“

Es tut ihm sichtlich gut, seine Geschichte beim Petersilienhacken zu rekonstruieren. In Luise Schnaus findet er eine konzentrierte Zuhörerin. Dieses Glück hat Peter Meier nicht mehr oft: „Manchmal fühle ich mich sozial völlig isoliert.“ Häufig plagen ihn Depressionen. Wenn er die Mitarbeiter der Christophorus-Gesellschaft nicht hätte – wo er jetzt wohl stehen würde? Die angebotene Hilfe anzunehmen, war für ihn allerdings nicht leicht, erklärt er Luise: „Früher stand ich ja sozusagen am anderen Ufer.“ Jetzt sitze er mit Menschen, denen er als Sozialarbeiter einst geholfen hatte, in einem Boot. Ein komisches Gefühl. An das er sich erst noch gewöhnen müsse.

Luise Schnaus kann nachvollziehen, welcher Schock das ist, plötzlich zur Besinnung zu kommen und sich ganz tief unten wiederzufinden. Geschichten wie die, die Peter Meier ihr erzählt, beschäftigen sie immer sehr lange: „Das ist auch der Grund, warum ich noch nicht sicher bin, ob das Soziale wirklich der richtige Beruf für mich ist.“ Man lerne dadurch eine Seite des Lebens kennen, die man eigentlich nicht unbedingt kennen lernen will: „Und oft ist der Drang ganz groß, zu helfen, die schwierige Situation des anderen zu verändern.“ Doch das, müssen professionelle Sozialarbeiterinnen lernen, ist nicht möglich. Am Ende ist das die Aufgabe jedes Menschen selbst.

 
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  • Ja, Frau Schnaus kann 1 Jahr lang gutes tun und ihren Horizont erweitern. Es bedarf Mut und Courage sich dafür zu entscheiden. Schließlich geht in diesem Jahr einiges an Einnahmen verloren. Oder ist es von Vorteil, wenn Frau in das Geschäft mit den Armen, Benachteiligten und Unterdrückten einsteigt, das man entsprechende Praktiken vorweisen kann ?
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