Darf man zum Impfen zwingen? Darüber streiten Impfgegner und Impfbefürworter nicht erst seit der Corona-Pandemie. Besonders intensiv wird über die Impfpflicht seit 1. März diskutiert, seit ein neues Gesetz Eltern dazu verpflichtet, ihre Kinder gegen Masern immunisieren zu lassen, sobald sie eine Kindertageseinrichtung besuchen. Auch Erzieher, Lehrer und medizinisches Personal müssen gegen Masern geimpft sein. Ende Mai hat das Bundesverfassungsgericht zwei Eilanträge gegen das Gesetz abgelehnt - von Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen wollten.
Impfgegner, die jetzt bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gehen, fühlen sich bestätigt. Sie befürchten, allen Beteuerungen von Politikern zum Trotz, eine Impfpflicht, sobald ein Wirkstoff gegen das Coronavirus gefunden ist.
Darf man zum Impfen zwingen? Ja, sagt Sigrun Vescovi, Vorsitzende des Kinderschutzbundes in Würzburg. Ihr widerspricht Professor Johannes Liese, Leiter der Infektiologie der Universiätskinderklinik in Würzburg. Dass sie beide aber sehr differenzieren und die Antworten nicht ganz so einfach sind, zeigt das Streitgespräch über die Impfpflicht.
Sigrun Vescovi: Nein. Der Kinderschutzbund unterstützt die Masern-Impfpflicht, weil die Masern hochgefährlich sind. Sie werden leider sehr oft unterschätzt, weil sie sehr selten auftreten, im Gegensatz zum Coronavirus. Kinder, die sich mit Masern infizieren, können schwere Schäden davontragen. Es gibt kein Medikament gegen die Masern. Sie sind keine einfache Kinderkrankheit und hochinfektiös. Deshalb ist im Fall der Masern die Impfung ein Kinderschutz.
Johannes Liese: Zunächst einmal: Ich befürworte ganz klar alle Impfungen, die die Ständige Impfkommission empfiehlt. Trotzdem hielt ich die Einführung der Impfpflicht bei den Masern für nicht verhältnismäßig. Die freiwillige informierte Zustimmung ist einer der wichtigsten Grundsätze in der Medizin. Eltern sollten sich informieren, alle Argumente kennen, abwägen und dann für ihr Kind die bestmögliche Option treffen.
Vescovi: Ich finde Sanktionen nicht gut. Ich fände es tausendmal besser, wenn es eine wirksame Strategie gäbe, den Eltern ihre Entscheidung zu erleichtern und sie davon zu überzeugen, dass der beste Schutz für ihr Kind eine Impfung ist.
Liese: Nein. Es ist doch bemerkenswert, dass wir mit Freiwilligkeit bei Kindern und Jugendlichen 97 Prozent beziehungsweise 93 Prozent Durchimpfungsraten bei der erste und zweite Masernimpfung erzielt haben. Und dass damit Masern in Deutschland weitgehend verschwunden sind. Es fehlen lediglich zwei Prozent, um den Gemeinschaftsschutz zu vervollständigen.
Liese: ...ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung Immunität durch eine Impfung (oder Infektion) erworben hat und dann auch der Teil der Bevölkerung geschützt ist, der nicht geimpft werden kann oder will.
Vescovi: ...eine Frage gesellschaftlicher Solidarität. Denn es gibt Kinder, deren Immunsystem nicht so belastbar ist und die nicht geimpft werden können. Für sie sind die geimpften Menschen um sie herum der Schutz. Das betrifft auch ganz kleine Kinder. Kinder kommen heute in immer zarterem Alter in die Krippe. Kinder unter einem Jahr kann man nicht gegen Masern impfen. Sie sind besonders gefährdet und nur geschützt, wenn die, die ihnen begegnen, nicht krank sind.
Liese: Bei Masern liegt die Schwelle bei 95 Prozent. Sie ist so hoch, weil die Erkrankung unglaublich ansteckend ist. Vier bis fünfmal so ansteckend wie Corona. Ist der Gemeinschaftsschutz aber erreicht, kann sich das Virus nicht mehr ausbreiten. Die Erkrankung wird ausgerottet. Wie bei den Pocken. Bei Corona nimmt man an, dass erste Gemeinschaftsschutzeffekte schon bei einer Immunitätsrate von 60 Prozent zu sehen wären. Die Immunität setzt sich zusammen aus den Geimpften und denen, die tatsächlich erkrankt waren.
Vesovi: Der Staat greift auch an anderer Stelle ins Elternrecht ein, etwa bei der Schulpflicht oder wenn in einer Familie das Wohl des Kindes gefährdet ist. Die Rechte der Eltern enden dort, wo sie ihren Kindern schaden.
Liese: Der Staat darf sich laut Infektionsschutzgesetz nur dann einschalten, wenn für die Gesundheit der Bevölkerung eine massive Gefahr besteht. Wie gerade jetzt beim Coronavirus. Was in Deutschland vielleicht passiert wäre, hätten wir keinen Lockdown gehabt, zeigt ein Blick in andere Länder, etwa in die USA. Doch bei den Masern gehen wir von einer völlig anderen Situation aus. Wir haben in der Altersgruppe der Kinder exzellent hohe Impfraten. Die größten Impflücken gibt es bei Erwachsenen. Das größte Problem ist die fehlende Aufklärung in dieser Altersgruppe. Oder sind Sie schon einmal vom Staat, von der Krankenkasse oder von Ihrem Hausarzt nach Ihrem Masern-Impfstatus gefragt worden?
Vescovi: Nein, bislang nicht.
Liese: Sehen Sie, wir diskutieren hier über den Hammer der Impfpflicht, dabei gibt es große Lücken in der gesundheitlichen Aufklärung. Mit dem Gesetz, das mit hohem Aufwand eingeführt wurde, erreichen wir noch nicht einmal die richtige Zielgruppe.
Vescovi: Dazu kann ich nur sagen: Die Kinder werden ja erwachsen. Und Menschen, die als Kinder geimpft wurden, sind irgendwann geschützte Erwachsene.
Liese: In diesen Fällen halte ich die Impfpflicht sogar für sinnvoll. Denn diese Personengruppen haben häufiger Kontakt zu potenziell Infizierten und können die Erkrankung auch leicht weitergeben. Doch bei Kindern sind Maserninfektionen eine Seltenheit. An der Unikinderklinik haben wir etwa alle zwei Jahre einen Masernfall. Fälle von Keuchhusten und Gehirnhautentzündung dagegen wesentlich häufiger.
Vescovi: Weltweit steigen die Masernfälle an. Wir reisen sehr viel. Wir kommen in Länder, wo wir uns infizieren könnten. Ich finde es wichtig, darauf zu reagieren. Darüberhinaus ist die Masernimpfplicht eine Chance, um die Aufmerksamkeit auf gefährliche Infektionskrankheiten zu lenken und Menschen darüber aufzuklären, wie wichtig Impfungen sind.
Liese: Ich befürchte, gerade die Aufklärung wird durch die Impfpflicht vernachlässigt. Viele wiegen sich durch das Gesetz in falscher Sicherheit. Und nochmal: Das Robert-Koch-Institut hat zwischen 2006 und 2017 insgesamt vier Masernverstorbene dokumentiert. Setzen Sie das mal in Relation zu über 9000 Todesfällen durch COVID-19 in Deutschland in diesem Jahr.
Liese: Wir müssen zunächst einmal einen Impfstoff finden, der sicher, wirksam und verträglich ist. Das geht bei Corona viel schneller als bei allen bisherigen Impfstoffentwicklungen. Bei Masern kennen wir die Nebenwirkungen und die Verträglichkeit der Impfung seit Jahrzehnten. Diese jahrelange Erfahrung werden wir bei einem Impfstoff gegen Covid-19 nicht haben. Deshalb kann man keine Impfpflicht verlangen. Wir müssen auf Freiwilligkeit setzen.
Vescovi: Das sehe ich genauso. Ich bin für mehr Überzeugungsarbeit. Gerade Medizinstudenten sollten darin geschult werden. Wenn die Aufklärung besser ist und das Vertrauen in die Ärzte höher, kann man auf Zwangsimpfungen verzichten, weil sich genügend Menschen freiwillig impfen lassen.
Liese: Ja, freiwillig! Mit einem zugelassenen und empfohlenen Impfstoff.
Vescovi: Wenn es einen Impfstoff gibt, von dem es heißt, die Verträglichkeit und die Nebenwirkungen seien gut, ja.
denn ganz klar bedeutet Impfpflicht eine Einschränkung der Rechte auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit. Jawohl: eine Impfung ist eine Körperverletzung, bei der vorsätzlich körperfremde Substanzen übertragen werden!
Das bringt uns zu der Frage, inwieweit "der Staat" von den Bürger/innen verlangen kann, ihre Rechte im Interesse "der Allgemeinheit" zurückzustellen. Das kann durchaus Sinn machen, um schwere Erkrankungen oder gar Todesfälle zurückzudrängen.
In dem Fall muss aber mMn "der Staat" das Impfrisiko tragen. Es kann insbesondere absolut nicht sein, dass im Fall von Komplikationen, evtl. gar mit Folgeschäden bei Kindern die Eltern sehen müssen, wie sie damit klarkommen. Da muss unaufgefordert(!) eine umfassende(!) Hilfeleistung einsetzen.
Minimieren kann "der Staat" dieses Risiko dadurch, dass er schon gleich die Impfstoff-Hersteller gründlich in die Pflicht nimmt.
Einseitig funktionieren kann das mMn aber nicht.