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WÜRZBURG
Pflegerin mit Handycap
Alicia Dömling (rechts) spielt mit einer Bewohnerin „Mensch-ärgere-dich-nicht“. Ihre Mentorin Andrea Reith lobt die Arbeit der 18-Jährigen.
Foto: Pat Christ | Alicia Dömling (rechts) spielt mit einer Bewohnerin „Mensch-ärgere-dich-nicht“. Ihre Mentorin Andrea Reith lobt die Arbeit der 18-Jährigen.
Pat Christ
Pat Christ
 |  aktualisiert: 28.04.2017 03:28 Uhr

Alicia Dömling nimmt den blauen Würfel in die Hand und lässt ihn über den Tisch kullern. Sechs Punkte! Na klasse! Das Spiel beginnt, spannend zu werden. Ihre Nachbarin am Tisch, eine betagte Bewohnerin des Hans-Sponsel-Hauses der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in der Würzburger Lindleinsmühle, strahlt. Es ist schön für sie, wieder einmal jemanden zum „Mensch-ärgere-dich-nicht“-Spielen zu haben. Der Nachmittag, der sich manchmal lange hinzieht, vergeht auf diese Weise im Nu.

Mit einem Praktikum fing alles an

Seit knapp zwei Jahren ist Alicia Dömling im Hans-Sponsel-Haus tätig. Im ersten Jahr leistete sie ein Praktikum ab. Seit September ist die 18-Jährige als Assistentin fest ins Pflegeteam des Wohnbereichs 3 integriert. Alicia duscht und wäscht die Bewohnerinnen und Bewohner, sie gibt Essen ein, unterhält sich mit den Senioren, räumt mit ihnen zusammen Schränke und Nachtkästchen auf und geht mit ihnen spazieren.

Innerhalb des Pflegeteams ist die Jugendliche eine besondere Mitarbeiterin. Alicia hat keine reguläre Ausbildung in einer Altenpflegeschule durchlaufen. Das wäre für sie auch kaum zu bewältigen gewesen, denn die junge Frau hat große Probleme mit dem Lernen. Das Wissen, das sie benötigt, um Grundpflege zu leisten, Bettlägerige zu lagern und Dokumentationspflichten zu erfüllen, wurde ihr elf Monate lang in fünf sogenannten Qualifizierungsbausteinen theoretisch und praktisch beigebracht.

„Berufsvorbereitende Qualifizierungsmaßnahme“ (BQM) nennt sich das Projekt, das die Würzburger Don-Bosco-Schule gemeinsam mit der Modellintegrationsgesellschaft „mig“, einer Tochter der Mainfränkischen Werkstätten, vor 15 Jahren auf den Weg gebracht hat. Damals war es nachgerade revolutionär gewesen, junge Menschen mit Handicap durch angepasste Module für verschiedene Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Inzwischen wurden um die 100 junge Menschen mit Lerneinschränkung, psychischen oder sozialen Defiziten für eine Tätigkeit in der Pflege fit gemacht.

Einrichtungen zu überzeugen, einen BQM-Teilnehmer einzustellen, dadurch die Lebensqualität im Heim zu erhöhen und einen Beitrag zur Inklusion zu leisten, ist allerdings nach wie vor nicht einfach, sagt Projektleiterin Susanne Niederhammer. Andererseits erleben alle jene Häuser, die sich auf das Projekt eingelassen haben, die Assistentinnen und Assistenten als einen „Schatz“.

Stationsleiterin als Mentorin

So ist auch Alicia Dömling inzwischen nicht mehr wegzudenken aus dem Wohnbereich 3 des Hans-Sponsel-Hauses. „Sie ist die Seele dieser Station“, bestätigt Einrichtungsleiter Jürgen Görgner. Dass Alicia Dömling im Hans-Sponsel-Haus einen Arbeitsplatz gefunden hat, ist ihrer Mentorin Andrea Reith zu verdanken. Die Stationsleiterin begleitete und unterstützte die Jugendliche während ihrer einjährigen Praktikumszeit. Aufgrund von Alicias Lernbehinderung musste sie teilweise ganz neue Methoden entwickeln, um der jungen Frau die Abläufe im Heimalltag nahezubringen. Im Gegenzug bereicherte die Jugendliche das Pflegeteam durch ihre Feinfühligkeit, ihre hohe Motivation und vor allem durch ihre unglaubliche Geduld. Mitunter sitzt Alicia eine komplette Stunde neben einer Bewohnerin, um ihr beim Essen zu assistieren.

Als das Praktikum zu Ende war, kämpfte Reith darum, dass Alicia einen festen, sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz im Hans-Sponsel-Haus erhielt. Das war nicht einfach gewesen, da just keine Stelle frei war. Schließlich rang sich die Heimleitung durch, einen Arbeitslatz eigens für die junge Frau zu schaffen.

Im ersten Jahr wird Alicias Stelle zu 60 Prozent öffentlich gefördert. Jürgen Görgner hofft, auch ab Herbst 2017 Fördermittel zu erhalten. Denn Alicia wird nie die volle Leistung einer Pflegefachkraft bringen können. Die knappen Pflegebudgets wiederum machen es Görgner unmöglich, Leistungsdefizite der BQM-Teilnehmerin zu kompensieren.

Aktuell durchlaufen abermals zehn junge Menschen aus der Region Würzburg den BQM-Fachbereich Pflege. Eine von ihnen ist Franziska Meßmann, die seit September in Haus Mainblick der Diakonie in Kitzingen praktiziert. Auch Meßmann fällt das Lernen schwer. „Dafür hat sie im Praktischen Stärken“, sagt BQM-Anleiterin Marion Schultheiß, die alle Teilnehmer des Projekts an ihren Praktikumsplätzen besucht und bei Problemen zwischen den jungen Leuten und den Einrichtungen vermittelt.

Alicia liebt ihren Job

Eigentlich, gibt Franziska Meßmann zu, hatte sie nie vorgehabt, mit alten Leuten zu arbeiten. „Ich wollte in den Kindergarten gehen“, so die 18-Jährige. Über den Integrationsfachdienst (ifd) kam die Absolventin der Kitzinger St. Martin-Förderschule auf die Idee, Qualifizierungsbaustein im Bereich Pflege zu durchlaufen. Inzwischen liebt sie ihren Job im Haus Mainblick. Besonders gut gefällt es ihr, mit den alten Menschen zu reden: „Eine unserer Bewohnerinnen wird bald Uroma. Wir sprechen oft darüber, wie es mit ihrem Urenkel sein wird.“

Mit Bewohnern zu spielen, Erinnerungsfotos anzuschauen oder ausgiebig zu reden, dafür haben Pflegefachkräfte keine Zeit, sagt Andrea Reith aus dem Hans-Sponsel-Haus: „Wir können uns höchstens mal zehn Minuten zu einer Spielrunde dazusetzen.“ Aus diesem Grund sind die BQM-Teilnehmerinnen in ihren Augen Gold wert.

Sie machen es möglich, dass all das nicht auf der Strecke bleibt, was für alte Menschen im Heim so wichtig ist: Zuwendung, Nähe, Aufmerksamkeit. Durch den Einbezug junger Menschen mit Handicap ins Pflegeteam beteiligen sich die Heime überdies am gesellschaftlichen Auftrag „Inklusion“. Mit einem Gewinn für alle Seiten.

Jobsuche für Menschen mit Handycap

Die Bundesagentur für Arbeit wirbt bei Arbeitgebern dafür, auch und gerade Menschen mit Handycap einzustellen. Diese hätten es grundsätzlich nicht leicht – ob im Beruf oder bereits bei der Jobsuche. Einige Stellenbörsen erhöhen die Chancen behinderter Arbeitsuchender auf einen Job. Manche Personalmanager, so die Agentur, seien behinderten oder chronisch kranken Menschen gegenüber verunsichert. „Sie fürchten hohe Ausfallzeiten, Umgangsschwierigkeiten, Kompetenzeinschränkungen oder den vermeintlichen Haken der Unkündbarkeit.“ Die gute Nachricht: Es gibt auch Chefs, die bevorzugt Menschen mit Handicap einstellen oder ihnen zumindest offen gegenüberstehen – die richtige Qualifikation vorausgesetzt. Zudem sind Unternehmen ab einer Größe von 20 Mitarbeitern gesetzlich verpflichtet, mindestens fünf Prozent der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu belegen. Ansonsten müssen sie eine Ausgleichsabgabe entrichten. Darüber hinaus, so heißt es bei der Bundesagentur, finde ein allmählicher Einstellungswandel in den Köpfen vieler Arbeitgeber statt. Denn je präsenter Menschen mit Handycap würden, desto mehr Vorurteile könnten abgebaut und Personalchefs von der Leistungsfähigkeit überzeugt werden. Im beschriebenen Fall von Alica Dömling (18) aus Würzburg, die von der AWO in ein Pflegeteam integriert wurde, ist genau das gelungen. Bei der Stellenbörse der Bundesagentur kann man nach speziellen Stellenangeboten suchen. Dazu wählt man zuerst die Stellenbörse für Arbeitsuchende und dann bei der Stellenangebot-Suche den Menüpunkt „Erweiterte Suche“. Auf der darauffolgenden Seite klickt man auf „Erweiterte Suchkriterien“. Dann hat man die Option, nach Stellenangeboten für „ausschließlich für schwerbehinderte oder ihnen gleichgestellte Menschen“ zu suchen. mel
Demenz: Reise ins Anderland       -  Wie sieht ein Leben mit Demenz aus? Wie gehen Angehörige und Pflegende mit der Krankheit um? Erich Schützendorf beschäftigt sich seit 40 Jahren mit der Demenz. Nun stellte er seine Thesen in der „Zukunftswerkstatt Demenz“ der Seniorenwohnanlage am Würzburger Hubland vor.  Für Schützendorf ist Demenz wie eine Reise, bei der sich Reisende und Reisebegleiter wohl fühlen müssen. „Wir lassen Reisende nach Anderland los und versuchen nicht, sie bei uns in Normalien zurückzuhalten.“ Dies sieht Schützendorf als ersten Schritt für alle, die Menschen mit Demenz auf ihrer Reise begleiten möchten.  Prävention, Demenzvorbeugung heißt für ihn, die Möglichkeit des geistigen Abbaus in den Lebensentwurf einzuplanen und Vorsorge zu treffen. Vorsorge nicht im Sinne von Verhinderung, sondern von der Überlegung: Wie gestalte ich diese Phase?  Weil er als Pflegebedürftiger lieber ins Grüne statt auf weiße Decken starren würde, habe er sich beispielsweise einen gläsernen Wintergarten ans Haus anbauen lassen, in den ein Pflegebett genau reinpasst. An heißen Tagen will er von dort in den Regen hinaus gebracht werden. Das hat er bereits festgelegt. Angehörigen rät er, statt den alten Menschen wiederfinden zu wollen, dem lieb gewonnenen Menschen im Jetzt und Hier zu begegnen. „Poesie zählt in Normalien mehr als Wissen.“ Für die Reise ins Anderland, so Schützendorf, müsse man sich von der Überbewertung der Rationalität, des Verstandes trennen. Der Mensch sei mehr als nur Verstand. Daneben machen Gefühle, Sinnlichkeit und vieles mehr einen Menschen aus. „Menschen bleiben auch Menschen, wenn sie nicht (mehr) vernünftig handeln oder mit dem Verstand ihre Welt schaffen“, sagt Schützendorf. Es sei nicht nur schlecht, sondern könne auch schön sein, stehe einem der Verstand nicht mehr im Wege. Betrachtet etwa Frau Schmitz Tag für Tag den Baum vor dem Fenster als ihren Freund, von dem sie jedes Blatt kennt, dann geht es nicht um das Wissen, was das für ein Baum ist. Es gehe vielmehr darum, sich neben sie zu setzen und ihr Staunen zu teilen. In Anderland, so Schützendorf, komme es mehr auf Passivitäten an als auf Handeln. Was in Normalien Sinn macht – zweckgerichtetes Handeln zu fordern, vernünftige Erklärungen zu geben, permanent verbal anzuleiten – ist in Anderland sinnlos. Besser ist es, sich auf das zauberhafte Andere einzulassen. Statt entrüstet zu sagen: „Was machen Sie denn da?“, dem anderen lieber mit der Haltung begegnen: „Was machen Sie da Interessantes?“ Und so weit es irgend geht, die vermeintlich sinnfreie Handlung zulassen. Statt Essen mit den Fingern zu verbieten, die Hände einfach vorher waschen. Statt Trommelübungen oder andere spielerische Experimente zu verbieten und streng darauf hinzuweisen, dass „wir doch jetzt essen und nicht klopfen wollen“ „uns anziehen wollen, statt die Bettdecke zu inspizieren“, lieber ganz nebenbei zum Essen, zum Aufstehen regelrecht verführen.“ „Wir dürfen die Reisenden in Anderland alleine leiden lassen, vorausgesetzt, wir kehren bald wieder zurück. Für echte, langfristige Begleitung, braucht es den Mut, die eigene Begrenztheit zu akzeptieren.“ Der Punkt, der vielen Pflegenden am schwersten fällt. Ein Problem, das noch verschärft wird durch hohen Eigenanspruch und Vorschriften sowie Prüfung und Bewertung der Pflege, die sich allein an Funktionalitäten orientiere. Tatsächlich aber, betont Schützendorf, könne niemand permanent für andere da sein. Es könne keiner aushalten, von anderen Menschen ständig gefordert zu werden. Unerlässlich seien daher Ruhepausen, Rettungsboote und Inseln im Meer der Verrücktheit. Das könne das Schwesternzimmer sein, in dem auch mal der Vorhang zugezogen wird, eine zweite schalldichte Tür, die das Dauerrufen unhörbar macht, ein Schaukelstuhl im Bewohnerbereich, in dem Pflegende nur körperlich präsent sind.  Das alles, rät er Einrichtungsleitern, müsse nicht nur erlaubt sein, sondern jeweils von den Mitarbeitern nach ihren Wünschen gestaltet. Zwingend dazu gehöre dann aber auch, so der Demenzprofi, die Bewohnerzimmer so einzurichten, dann es für die Pflegenden attraktiv ist, auch weder dorthin zurückzukehren. „In Anderland holt man die Menschen nicht ab, wo sie stehen, sondern  begegnet ihnen, wo sie sind.“ Auf die Reisenden zugehen, sie anschauen, auf sie (zurück) zu blicken  (lateinisch: re-spectare). Mehr brauche es nicht. „Reden Sie nicht so viel, sondern halten einfach mal die Klappe und seien Sie bereit, nur Händchen zu halten, anders als verbal zu kommunizieren – und sich hinein zu fühlen ins Anderland. Denn auch wenn sie keine Worte mehr haben, ausdrücken können sich die Menschen bis zum Schluss.“ Die Reise nach Anderland ist zu Hause und für die Angehörigen allein oft irgendwann nicht mehr möglich. Zu sehr weicht das dionysische Verhalten von gesellschaftlichen Normen ab. Diese Tatsache müsse man akzeptieren, so Schützendorf. Einrichtungen, die es schaffen, oben beschriebene Biotope zu sein, seien dann für alle die beste Lösung. Die Diskussion darüber allerdings, wo die Grenze des Erträglichen in einer immer toleranteren Gesellschaft liegt, müsse geführt werden. Immer wieder neu.
| Wie sieht ein Leben mit Demenz aus? Wie gehen Angehörige und Pflegende mit der Krankheit um? Erich Schützendorf beschäftigt sich seit 40 Jahren mit der Demenz.
 
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    "Handycap"? Echt jetzt?
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