Alicia Dömling nimmt den blauen Würfel in die Hand und lässt ihn über den Tisch kullern. Sechs Punkte! Na klasse! Das Spiel beginnt, spannend zu werden. Ihre Nachbarin am Tisch, eine betagte Bewohnerin des Hans-Sponsel-Hauses der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in der Würzburger Lindleinsmühle, strahlt. Es ist schön für sie, wieder einmal jemanden zum „Mensch-ärgere-dich-nicht“-Spielen zu haben. Der Nachmittag, der sich manchmal lange hinzieht, vergeht auf diese Weise im Nu.
Mit einem Praktikum fing alles an
Seit knapp zwei Jahren ist Alicia Dömling im Hans-Sponsel-Haus tätig. Im ersten Jahr leistete sie ein Praktikum ab. Seit September ist die 18-Jährige als Assistentin fest ins Pflegeteam des Wohnbereichs 3 integriert. Alicia duscht und wäscht die Bewohnerinnen und Bewohner, sie gibt Essen ein, unterhält sich mit den Senioren, räumt mit ihnen zusammen Schränke und Nachtkästchen auf und geht mit ihnen spazieren.
Innerhalb des Pflegeteams ist die Jugendliche eine besondere Mitarbeiterin. Alicia hat keine reguläre Ausbildung in einer Altenpflegeschule durchlaufen. Das wäre für sie auch kaum zu bewältigen gewesen, denn die junge Frau hat große Probleme mit dem Lernen. Das Wissen, das sie benötigt, um Grundpflege zu leisten, Bettlägerige zu lagern und Dokumentationspflichten zu erfüllen, wurde ihr elf Monate lang in fünf sogenannten Qualifizierungsbausteinen theoretisch und praktisch beigebracht.
„Berufsvorbereitende Qualifizierungsmaßnahme“ (BQM) nennt sich das Projekt, das die Würzburger Don-Bosco-Schule gemeinsam mit der Modellintegrationsgesellschaft „mig“, einer Tochter der Mainfränkischen Werkstätten, vor 15 Jahren auf den Weg gebracht hat. Damals war es nachgerade revolutionär gewesen, junge Menschen mit Handicap durch angepasste Module für verschiedene Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Inzwischen wurden um die 100 junge Menschen mit Lerneinschränkung, psychischen oder sozialen Defiziten für eine Tätigkeit in der Pflege fit gemacht.
Einrichtungen zu überzeugen, einen BQM-Teilnehmer einzustellen, dadurch die Lebensqualität im Heim zu erhöhen und einen Beitrag zur Inklusion zu leisten, ist allerdings nach wie vor nicht einfach, sagt Projektleiterin Susanne Niederhammer. Andererseits erleben alle jene Häuser, die sich auf das Projekt eingelassen haben, die Assistentinnen und Assistenten als einen „Schatz“.
Stationsleiterin als Mentorin
So ist auch Alicia Dömling inzwischen nicht mehr wegzudenken aus dem Wohnbereich 3 des Hans-Sponsel-Hauses. „Sie ist die Seele dieser Station“, bestätigt Einrichtungsleiter Jürgen Görgner. Dass Alicia Dömling im Hans-Sponsel-Haus einen Arbeitsplatz gefunden hat, ist ihrer Mentorin Andrea Reith zu verdanken. Die Stationsleiterin begleitete und unterstützte die Jugendliche während ihrer einjährigen Praktikumszeit. Aufgrund von Alicias Lernbehinderung musste sie teilweise ganz neue Methoden entwickeln, um der jungen Frau die Abläufe im Heimalltag nahezubringen. Im Gegenzug bereicherte die Jugendliche das Pflegeteam durch ihre Feinfühligkeit, ihre hohe Motivation und vor allem durch ihre unglaubliche Geduld. Mitunter sitzt Alicia eine komplette Stunde neben einer Bewohnerin, um ihr beim Essen zu assistieren.
Als das Praktikum zu Ende war, kämpfte Reith darum, dass Alicia einen festen, sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz im Hans-Sponsel-Haus erhielt. Das war nicht einfach gewesen, da just keine Stelle frei war. Schließlich rang sich die Heimleitung durch, einen Arbeitslatz eigens für die junge Frau zu schaffen.
Im ersten Jahr wird Alicias Stelle zu 60 Prozent öffentlich gefördert. Jürgen Görgner hofft, auch ab Herbst 2017 Fördermittel zu erhalten. Denn Alicia wird nie die volle Leistung einer Pflegefachkraft bringen können. Die knappen Pflegebudgets wiederum machen es Görgner unmöglich, Leistungsdefizite der BQM-Teilnehmerin zu kompensieren.
Aktuell durchlaufen abermals zehn junge Menschen aus der Region Würzburg den BQM-Fachbereich Pflege. Eine von ihnen ist Franziska Meßmann, die seit September in Haus Mainblick der Diakonie in Kitzingen praktiziert. Auch Meßmann fällt das Lernen schwer. „Dafür hat sie im Praktischen Stärken“, sagt BQM-Anleiterin Marion Schultheiß, die alle Teilnehmer des Projekts an ihren Praktikumsplätzen besucht und bei Problemen zwischen den jungen Leuten und den Einrichtungen vermittelt.
Alicia liebt ihren Job
Eigentlich, gibt Franziska Meßmann zu, hatte sie nie vorgehabt, mit alten Leuten zu arbeiten. „Ich wollte in den Kindergarten gehen“, so die 18-Jährige. Über den Integrationsfachdienst (ifd) kam die Absolventin der Kitzinger St. Martin-Förderschule auf die Idee, Qualifizierungsbaustein im Bereich Pflege zu durchlaufen. Inzwischen liebt sie ihren Job im Haus Mainblick. Besonders gut gefällt es ihr, mit den alten Menschen zu reden: „Eine unserer Bewohnerinnen wird bald Uroma. Wir sprechen oft darüber, wie es mit ihrem Urenkel sein wird.“
Mit Bewohnern zu spielen, Erinnerungsfotos anzuschauen oder ausgiebig zu reden, dafür haben Pflegefachkräfte keine Zeit, sagt Andrea Reith aus dem Hans-Sponsel-Haus: „Wir können uns höchstens mal zehn Minuten zu einer Spielrunde dazusetzen.“ Aus diesem Grund sind die BQM-Teilnehmerinnen in ihren Augen Gold wert.
Sie machen es möglich, dass all das nicht auf der Strecke bleibt, was für alte Menschen im Heim so wichtig ist: Zuwendung, Nähe, Aufmerksamkeit. Durch den Einbezug junger Menschen mit Handicap ins Pflegeteam beteiligen sich die Heime überdies am gesellschaftlichen Auftrag „Inklusion“. Mit einem Gewinn für alle Seiten.