Im Dachgeschoss des alten Schulhauses in Obernbreit (Lkr. Kitzingen) sitzt Peter Wamsler am Computer, hinter ihm drängen sich in engen Regalreihen Bücher und verschiedenste Dokumente; auf dem Boden stehen fünf alte Spinnräder, daneben die Trommel einer früheren Blaskapelle.
Archivalien, die die Bewohner Obernbreits abgegeben haben oder die der 75-Jährige vor dem Verschwinden in der Versenkung gerettet hat. Dienstags, mittwochs und donnerstags ist Wamsler im Archiv der Gemeinde, in der er seit 2002 wohnt, anzutreffen – und das, obwohl er nach insgesamt 50 Berufsjahren einfach seinen Ruhestand genießen könnte. Doch die Geschichte und das Bewahren derselben scheint Wamsler nicht loszulassen.
„Ich wollte schon immer Geschichte studieren, aber Anfang der 60er Jahre war ein Studium für mich unbezahlbar“, so der 75-Jährige. Stattdessen machte Wamsler nach seinem Abitur bei der Bundeswehr Karriere; als Chef verschiedener Kompanien und stellvertretender Bataillonskommandeur zog er samt Frau und zwei Söhnen für seine wechselnden Einsatzorte durch ganz Deutschland.
Nach 30 Jahren im Beruf bot sich die Chance, vorzeitig in Pension zu gehen. Und so kam es, dass der gebürtige Schwäbisch Gmünder 1989 als 50-Jähriger an der Universität Würzburg endlich seiner eigentlichen Passion nachgehen konnte: als Student der Geschichte und der Politischen Wissenschaften, mit Schwerpunkt Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften.
Wie hat es sich angefühlt, nach 30 Jahren Berufsleben noch mal im Hörsaal zu sitzen? „Es ist was anderes, ob man selbst unterrichtet, oder ob man zuhören muss“, sagt Wamsler und lacht.
„Ein paar Mal bin ich tatsächlich eingepennt.“ Was ihn begeistert, ist das Fach „Historische Hilfswissenschaften“: Münzfunde auswerten (Numismatik), herausfinden, ob eine Urkunde echt ist (Diplomatik) und verschiedene Schriften lesen und transkribieren (Schriftkunde). „Das ist Handwerkszeug, das jeder Historiker braucht“, sagt Wamsler – so auch im Archiv. Dass er dieses Wissen einmal in den Gemeindearchiven des Landkreises Würzburg einbringen würde, ahnte er damals noch nicht.
Nach fünf Jahren Studium wollte Wamsler, promovieren, doch eine Krebserkrankung brachte ihn zum Innehalten. Für die Recherche seiner Doktorarbeit über den Johanniterorden hätte er mindestens ein halbes Jahr nach Malta gemusst, wo die Quellen für sein Thema lagen – ein gesundheitlich riskantes und finanziell aufwendiges Vorhaben.
„Warum tust Du Dir das an?“, habe er sich gefragt und beschlossen, all seine Unterlagen für das Projekt auf einen Schrank zu verbannen. „Das war?s.“ Und trotzdem: Wann immer der 75-Jährige auf Material für das Thema seiner Arbeit stößt, sammelt er es, auch heute noch.
Als 1998 das Amt des Kreisarchivpflegers vom Landkreis Würzburg neu ausgeschrieben wird, kommt man auf Wamsler zu.
Er bewirbt sich, lässt sich zum Kreisarchivpfleger ausbilden und berät fast zwei Jahrzehnte lang die Gemeinden des Landkreises – für eine Aufwandsentschädigung von 200 Euro im Monat sowie ein Kilometergeld für seine Fahrten zu den Archiven. Die Arbeit ist ehrenamtlich, „sonst wären sehr viele mehr an der Tätigkeit interessiert“, ist Wamsler überzeugt.
Ein Kreisarchivpfleger gibt den Gemeinden in Sachen Archiv Hilfe zur Selbsthilfe; er berät, wenn es um die Sicherung und Ordnung von Akten und Archivalien geht.
Der Landkreis Würzburg umfasst 52 Gemeinden – wie geht man eine solche Arbeit an? „Ich habe überall zunächst einen Termin mit dem Bürgermeister vereinbart“, so Wamsler. Schließlich ist es die Gemeinde, die die Mittel zur Archivpflege aufbringen muss. „Kein Geld“ sei dementsprechend der häufigste Grund für ein bisher fehlendes Archiv gewesen.
Der Hinweis darauf, dass es die Nachbargemeinde doch auch schaffe, ein Archiv zu finanzieren, habe oft schon Wunder gewirkt, erinnert sich der 75-Jährige und lacht. Danach ging Wamsler auf den Gemeinderat des Ortes zu und sprach dort über Archivpflege. „Es ging darum, eine Person zu finden, die die Arbeit zusammen mit dem Bürgermeister und dem Pfarrer macht.“
Viele Bürgermeister und Geschäftsstellenleiter seien kooperativ gewesen, zieht Wamsler Bilanz. Und doch hat der 75-Jährige während seiner Zeit als Kreisarchivpfleger Dinge erlebt, über die er noch heute den Kopf schüttelt. „Die Archivarbeit in manchen Gemeinden ist katastrophal.“ Wenn das Bewusstsein für die Bedeutung geschichtlicher Dokumente fehle, könne es zu Situationen wie der folgenden kommen.
Ein Schulleiter, der sich in einer Gemeinde um das Archiv kümmerte, habe Wamsler angerufen: „Kommen Sie schnell, der Bürgermeister spinnt!“ Um Platz für aktuelle Dokumente zu schaffen, wollte dieser kurzerhand die vom Datum her ältesten entsorgen – doch nicht mit Peter Wamsler. „Hätte der Bürgermeister kein Einsehen gehabt, hätte ich den Landrat eingeschaltet“, sagt der 75-Jährige mit Nachdruck.
Doch was landet letztlich in einem Gemeindearchiv? Neben historischen Dokumenten auch zeitgeschichtliche, wie etwa die Unterlagen aus der Verwaltung einer Gemeinde. Zwischen 20 und 40 Jahren muss die Verwaltung Schriftstücke aufbewahren, ehe diese ans Archiv weitergegeben werden. Dort entscheidet man, was aufgehoben wird. Und dann beginnt die eigentliche Arbeit: „Wir sortieren die Sachen, entfernen Metallteile wie etwa Büroklammern und ersetzen sie durch Kunststoff – Rost zerfrisst das Papier“, erklärt Wamsler.
Anschließend wird das Material alphabetisiert und die Ablage nach Aktenzeichen organisiert. Damit die Dokumente auch per PC abrufbar sind, werden sie eingescannt und nach einem ausgeklügelten System abgelegt. „Das ,System Wamsler‘ wird bleiben“, lobte Ingrid Heeg-Engelhart vom Staatsarchiv Würzburg bei der Verabschiedung Wamslers dessen Arbeitsprinzip. Viele Landkreis-Gemeinden hätten ihr Archiv mittlerweile auf diese Weise organisiert.
In Giebelstadt, wo Wamsler mit seiner Familie wohnte, baute er selbst das Gemeindearchiv mit auf. Als seine Frau Sieglinde als Arzthelferin in Rente ging, stieg sie mit in die Archivarbeit ein. Auch die gebürtige Giebelstadterin hat schon lange ein Faible für Geschichte und lernte, die alte deutsche Schrift zu lesen. „Sie liest inzwischen besser als ich – und schreibt am PC sehr viel schneller als ich mit meinem Zweifingersystem“, so Wamsler.
„Die Arbeit macht Spaß, wir sind gerne im Archiv und ergänzen uns sehr gut“, sagt Sieglinde Wamsler. Nach dem Umzug der Familie nach Obernbreit begannen die beiden, das dortige Archiv aufzubauen. „Das war eine spannende Zeit“, erinnert sich Wamsler, „für den Abschluss in Giebelstadt und den Neustart in Obernbreit haben wir parallel in zwei Archiven gearbeitet.“ Führen die Wamslers ein Leben fürs Archiv? Ja, das könne man so sagen, nickt das Paar einhellig.
Wünscht sich Peter Wamsler manchmal, er hätte schon früher in seinem Leben die Möglichkeit gehabt, seiner Leidenschaft für Geschichte nachzugehen? Der 75-Jährige überlegt kurz und erklärt dann, dass er bei der Archivarbeit schon vielfach vom Wissen und den Erfahrungen aus seiner Bundeswehr-Zeit profitiert habe. „Kaum einer kann zum Beispiel etwas mit militärischen Unterlagen anfangen. Ich schon, und darüber bin ich froh.“