Auch wenn sein Outing einige Jahre zurückliegt, vergessen wird Patrick Häußlein aus Würzburg den Moment der Wahrheit gegenüber seiner Familie nie. Schon lange vorher drehte sich bei dem heute 29-Jährigen alles um die Frage: Wie sage ich es Mama? Und, wesentlich schwieriger für Jungs: Wie sage ich es Papa? Wenn ein Kind nicht heterosexuell ist und abseits der noch weit verbreiteten, gesellschaftlichen Norm leben und lieben möchte, kann das Familienleben aus den Fugen geraten. Die Reaktionen können heftig ausfallen. Vor allem ein unerwartetes Outing der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität kann zu seelischen Verletzungen auf beiden Seiten führen. "Oder", so sagt Patrick Häußlein im Rückblick lächelnd, "es ist am Ende alles gar nicht so schlimm wie befürchtet".
Monate des Grübelns
Patrick hat beide Extreme erlebt. Eine völlig entspannte Mutter, die ihm gesagt hat, dass sie das schon lange vermutet habe und sie ihn immer lieben werde, ganz egal, ob schwul oder nicht. Und auf der andere Seite einen verbal explodierenden Vater. Da seine Eltern bei seinem Outing schon lange geschieden waren, musste Patrick zweimal den richtigen Moment und die richtigen Worte finden. Wer es nicht selbst erlebt habe oder gerade erlebe, so meint Patrick, könne sich vermutlich nicht mal annähernd vorstellen wie schwer so etwas sei. Wie kräftezehrend. Wie verstörend.
Denn bevor es zum Outing kommt, liegen meist ja schon viele Monate, manchmal Jahre des Grübelns, des Ausprobierens, der langsam wachsenden und immer wieder verdrängten Erkenntnis hinter dem oder der Betroffenen. "Man muss es sich ja erst einmal selbst eingestehen. Sicher sein. Befreit sein vom Gedanken, es könnte nur eine Phase sein. Man könnte ja vielleicht auch nur bisexuell sein", sagt Patrick, der auch mal in ein Mädchen verliebt war. Doch die Beziehung, die von seiner Seite aus nicht über ein schüchternes Händchenhalten herausgekommen ist, war nach zwei Monaten beendet. "Sie hat Schluss gemacht, weil ich ihr zu zurückhaltend und brav war."
Letztlich habe ihn das aber bestätigt in seiner Vermutung. Erst wenn man es für sich selbst klar formuliert habe, dann habe man den ersten Schritt gemacht. Die meisten, so Patrick, würden sich dann auch zuallererst einmal guten Freunden oder nahen Verwandten anvertrauen. Wer wird wie reagieren? Was habe ich zu verlieren, wenn es bekannt wird? Und, das Wichtigste für die Allermeisten: Wann sage ich es meinen Eltern?
Diese Frage stellt sich gerade Lillet Lube aus dem Landkreis Schweinfurt, der als Dragqueen zur monatlichen "Popular"-Gaydisco in den Würzburger Kultur-Klub Chambinzky gekommen ist. "In der Schule wissen es die meisten. Aber meinen Eltern habe ich es noch nicht gesagt", so der 17-Jährige. In dieser Situation sind Anlaufstellen wie das Schwullesbische Zentrum Würzburg namens WuF (Werdet unsere Freunde) wichtig. Dort gibt es verschiedene Gruppen und Veranstaltungen sowie die "Rosa Hilfe Würzburg", eine anonyme Beratungsstelle, bei der Jungs und Männer auf Verständnis, Trost und Hilfe stoßen. Das alles kann Lillet Lube jetzt gut gebrauchen. Zusammen mit Juliette Gilette (17) und Electra Illusion (18) aus Würzburg lehnt der Schüler an der Bar. Aufwendig geschminkt, mit Perücken und Frauenkleidern gestylt, gehört das Trio zur Szene in Würzburg genauso dazu wie die Männer und Frauen, denen man das Schwul-, Lesbisch-, Bi- oder Transident sein nicht ansieht.
Für Stefan aus Würzburg zum Beispiel, wäre so ein schrilles Auftreten als Dragqueen gar nichts. "Eine Dragqueen", so erklärt Electra, "hat eine feste Rolle mit eigenem Drag-Namen. Der Mann stellt sich zwar als Frau dar, empfindet sich aber als Mann." Während Lillet Lube noch nicht weiß, was beim Outing in der Familie passieren wird, hat Stefan das schon viele Jahre hinter sich. Und der 54-Jährige weiß: Outing in der Familie ist schwer. Auch Eltern haben danach das Bedürfnis nach Ansprache und Trost. Egal, ob Tochter oder Sohn – plötzlich ist alles ganz anders.
Das Gefühlskarussell annehmen
Angelika Mayer-Rutz ist psychologische Beraterin, hat in den vergangenen Jahren vielen Eltern homosexueller und transsexueller Kinder in der Region geholfen, mit Verzweiflung und Wut besser klar zu kommen. Sie bietet im WuF-Zentrum eine Elterngruppe und entsprechende Beratung an. Fast immer stellten Eltern die Frage: Was haben wir bloß falsch gemacht?
Für Mütter, so sagt Mayer-Rutz, sei die sogenannte "Schuldfrage" meistens prägender. Habe ich zu wenig Grenzen gesetzt? Das Kind verzärtelt? Frauen reagierten meist emotionaler, mit viel Angst um ihr Kind. Väter fragen sich häufig, ob sie ihrem Sohn zu wenig Vorbild waren, die Männerrolle zu wenig weitergegeben haben. "Manchmal tauchen sie auch ab und überlassen das Managen der neuen Familiensituation der Mutter, die ja meist in der Erziehung an erster Stelle steht", so Mayer-Rutz. Die Expertin rät dazu, erst einmal das Gefühlskarussell mit den widersprüchlichen Gefühlen und Ängsten anzunehmen. "Man muss Geduld mit sich haben!"
Wichtig sei es, dem Kind zu sagen, dass man Zeit brauche, die Nachricht zu verarbeiten. Es ungeachtet dessen aber immer lieben und unterstützen werde – auch wenn es sich für einen anderen Lebensweg entschieden hat als erwartet. Ein Outing zu verarbeiten, das sei für Eltern ein individueller Trauerprozess. "Bei den Eltern, die ich begleitet habe, war der Weg von der Verzweiflung bis zur Akzeptanz mit Hilfe von außen besser zu bewältigen", so die Therapeutin. Gespräche, Literatur, Gruppentreffen, all das kann enorm helfen. Die wenigen Väter, die sich dem Thema in einer Gruppe gestellt hätten, hätten eine große, individuelle Entwicklung erlebt.
Eltern sind der härteste Brocken
War Outing früher schwerer als heute? Die Männer, die bei der Gaydisco im Chambinzky an der Theke sitzen, schütteln den Kopf. "Die Eltern sind bei einem Outing die härtesten Brocken. Das hat also nichts mit einer mehr oder weniger aufgeklärten oder toleranten Gesellschaft zu tun. Das wird immer so sein", glaubt Stefan. Weil Familie extrem emotional besetzt sei. Weil jeder Angst vor Enttäuschung und Verletzungen habe. Zudem sei Homosexualität heute zwar zumindest in Deutschland vielfach toleriert, in anderen Ländern wie etwa in Russland habe es aber extreme Rückschritte gegeben. Dort sei die Homo-, Bi- und Transphobie von der Regierung befördert worden und im Eiltempo durch alle Bevölkerungsschichten gewandert und nach wie vor stark vertreten.
Für Dragqueen Electra Illusion, die auf einem Würzburger Gymnasium war, und sich dort früh geoutet hat, war ein Outing in der Familie nicht mehr möglich: Beide Elternteile sind schon gestorben. Die Erfahrungen mit dem Schwulsein seien extrem unterschiedlich. "Du triffst Leute, die sind voller Verständnis, da fühlst du dich gleich wohl. Bei mir auf der Schule war es furchtbar. Ich habe Drohungen bekommen und Sätze wie 'Hoffentlich verreckst du bald'", sagt Electra.
Diskriminierung, Drohungen, verbale und körperliche Gewalt: In Deutschland sind die Straftaten, die sich gegen die sexuelle Orientierung eines Opfers richten, in den vergangenen Jahren kontinuierlich und deutlich angestiegen. 27 Prozent mehr solcher Straftaten gab es etwa 2017 gegenüber 2016, heißt es im Innenministerium. Um dem etwas entgegenzusetzen, wird auch in vielen Städten Deutschlands jährlich der internationale Christopher Street Day (CSD) gefeiert. Auch in Würzburg wird es heuer am 29. Juni nach längerer Zeit wieder einen bunten Umzug durch die Innenstadt und ein Queeres Straßenfest in der Eichhornstraße geben.
Patrick Häußlein ist Gründungs- und Vorstandsmitglied sowie im Planungsteam des veranstaltenden Queer Pride Würzburg e. V. "Das wird absolut grandios!", sagt der 29-Jährige. Das Motto des "Würzburger Street Day – CSD Mainfranken" wird am Sonntag, 17. März, bei einer Filmmatinée im Programmkino "Central im Bürgerbräu" verkündet. Dort wird der Film "Stonewall" gezeigt, die Historie über das, was sich vor 50 Jahren in der Christopher Street in New York ereignet hat. Für Aufmerksamkeit hatte der Verein schon im vergangenen Jahr gesorgt, als am 17. Mai, zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi- und Transphobie (IDAHOTB)auf der Alten Mainbrücke in Würzburg Hunderte Luftballons mit Wünschen in den Himmel stiegen.
Wie negativ das Thema Schwulsein noch besetzt ist, hat Patrick Häußlein bei seinem Outing gegenüber dem Vater erfahren. "Da fielen ganz schlimme Sätze. Du bist ein Arschficker, in ein paar Jahren wirst du an Aids sterben, gehörten da auch dazu", sagt Patrick. Heute kann er darüber mit seinem Vater reden – und sogar lachen.
Sein Vater stehe zum damaligen Ausraster, würde aus heutiger Sicht aber anders reagieren. Verständnisvoller. Nicht so heftig. "Manchmal hadert mein Papa aber noch mit meinem Schwulsein. Als bei mir eine langjährige Beziehung zu Ende war, sagte er, ich könne mir ja jetzt endlich doch mal eine Frau suchen", erinnert sich Patrick kopfschüttelnd. "Das ist doch Wahnsinn und macht mich immer noch traurig." Umgekehrt findet Patrick es toll, dass sein Vater sich von Anfang an immer sehr gut mit seinen Partnern verstanden hat, auch gerne mit ihm und ihnen unterwegs war.
Patrick Häußlein ist es wichtig, dass gerade junge Menschen wie der 17-jährige Lillet Lube, Ansprechpartner finden, die ihm beratend zur Seite stehen. Im WuF, dort wo Häußlein als ehrenamtlicher Berater ein zweites Zuhause hat, trifft sich am Freitag, 15. März, um 20 Uhr die Jugendgruppe "DéjàWü" für Leute von 16 bis 26 Jahren. Jeder, der sich die Jugendgruppe einmal anschauen möchte, sei herzlich eingeladen und könne auch Freunde mitbringen. "Alleine irgendwo hinzugehen, das ist anfangs immer ein großer Schritt!" Patrick Häußlein spricht da aus Erfahrung.
Leider hat sich eine Ungenauigkeit eingeschlichen. Sie schreiben:
»Transgeschlechtliche Menschen (auch: Transgender) sind alle die, die nicht in dem Geschlecht leben können oder wollen, welchem sie bei ihrer Geburt zugeordnet wurden. Hierzu zählen Transsexuelle, Drags, Transidenten, Cross-Dresser und viele mehr.«
Der erste Satz ist korrekt, der zweite ungeau bzw. missverständlich.
Drags wie z.B. Dragqueens sind Männer, die in »künstlerischer oder humoristischer Absicht durch Aussehen und Verhalten eine Frau darstellen.« (Wikipedia). Jedoch empfindet sich dieser Mann immer noch als Mann und nicht als Frau. Analog verhält es sich bei Dragkings.
Cross-Dressing bezeichnet schlicht das Tragen der spezifischen Bekleidung des anderen Geschlechts. Das *kann*, muss aber nicht Ausdruck der Geschlechtsindentität einer Person sein.
Vielleicht hätte man schlicht den zweiten Satz weglassen sollen. Er wirft mehr Fragen auf als er beantwortet.