Orest, der Schlächter seiner Mutter, hetzt zur Akropolis hinauf, die Rachegöttinnen hinterher. Sie machen ihn irre mit ihrem Geschrei und ihrem Gestank, sie wollen sein Blut und sein Fleisch und zur Hölle schicken, was von ihm übrig bleibt. Er rennt und stolpert die marmorne Treppe hinauf, stürzt hinein ins Heiligtum der Athene, vor ihrem Altar wirft er sich hin. Der geplagte Mörder umarmt das heilige Bild der Göttin; Orest bittet um Asyl. Aber Athene ist nicht da - Dienstreise in Kleinasien.
Unsichtbares wird sichtbar
Christian Manuel Oliveira, Sohn einer deutschen Mutter und eines portugiesischen Vaters, gibt in der „Orestie" des Mainfranken Theaters den Titelhelden. Er ist jetzt mit dem Ensemble auf der Akropolis gewesen und vor dem Heiligtum Athenes gestanden – ein Feld aus Steinen; kein Altar zu erkennen. Aber Oliveira sagt, die Griechenland-Exkursion des Theaters mache „etwas sichtbar, was nicht sichtbar ist". Im Trubel von Tausenden Touristen, unter der brennenden Sonne Attikas, werden für die Würzburger die Jahrtausende alten Geschichten wieder lebendig – wenn sie jemals gestorben waren.
Orest sitzt in der Klemme
Orest bringt seine Mutter Klytaimnestra samt ihrem Liebhaber nicht aus eigenem Drang um. Er tut es, weil er in einer Klemme sitzt, aus der es kein Entrinnen gibt: Mordet er, machen ihn die Rachegöttinnen fertig, mordet er nicht, tut es Apollon, der Gott der Heiler und der Musiker; der gab ihm den Auftrag zu töten. Es ist eine griechische Geschichte mit Schuld und Blutrache über viele Generationen hinweg.
Was hat das mit uns zu tun? - Teil 1: Die Wiege des Asyls
Die Theaterleute stoßen auf ihrer Reisen zu Originalschauplätzen der Tragödie fortwährend auf aktuelle Bezüge. Beispiel: das Asyl. Es ist eine Erfindung der alten Griechen. Wer, wie Orest auf der Akropolis, mit einem Lorbeerzweig ein Heiligtum betrat, stand unter dem Schutz der Götter. Bis heute gilt dieses Asylrecht an den griechischen Universitäten; solange von drinnen niemand um Hilfe ruft, darf keine Polizei rein. Selbst die griechische Junta habe sich Anfang der 1970er Jahre daran gehalten, berichtet der Archäologie-Professor Ulrich Sinn, der Leiter der Exkursion. Die Generäle hätten die aufständischen Studenten erst angegriffen, als – zu Sinns Verdruss – ausgerechnet zwei Archäologie-Professoren den Angriff der Panzer forderten. Ausländische Schutzsuchende lassen die Griechen bis heute im Stich. Der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen warnt davor, Asylbewerber nach Griechenland zu schicken, dort seien sie nicht sicher.
Was hat das mit uns zu tun?- Teil 2: Die Fische aus dem Senegal
Zwischen zwei Heiligtümern erzählt Schauspieldirektor Bernhard Stengele, was er an der Küste des Senegal erlebte. Die Fischer seien ohne Fang vom Meer zurückgekommen, weil draußen, 200 Kilometer vor der Küste, internationale Fischtrawler die Schwärme abfingen. Für den Theatermacher ergeben sich Fragen: Was sollen diese Leute anderes machen, als ins Exil zu gehen? Wohin sollen sie gehen? Und was haben wir damit zu tun? – „Wir essen ihre Fische", sagt er. Niemand solle glauben, er habe nichts mit den Flüchtenden zu tun. Den Bedarf nach Asyl schaffen die reichen Länder mit der Ausbeutung der armen.
Was hat das mit uns zu tun? -Teil 3: Die Mythen der Politik
Auf Schritt und Tritt stößt der Theatertross auf antike Inszenierungen und Geschichtsklitterungen. Hatten die Dorer in Sparta und Korinth die Heldenfigur Herakles, die ihnen Bedeutung verschaffte, schufen sich die Athener den ebenbürtigen Theseus, um gleichrangig zu sein. Die Aristokraten schufen die Mythen, die sie zur Durchsetzung ihrer Politik brauchten. Mythos und Realität waren ein und dasselbe. Parallelen zur Gegenwart sind unübersehbar. Hermann Schneider, der Intendant, hält auch heute die Realität für eine Inszenierung.
Der Grundcode der Regisseure
Schneider sagt, die Auseinandersetzung mit den Fragen nach dem Verhältnis von Mensch und Gesellschaft ergebe einen „Grundcode", an dem jeder Regisseur zu erkennen sei und der nötig sei, um glaubwürdig zu sein.
„Die Orestie" ist ein antiker Dreiteiler; drei Regisseure setzen sie in Würzburg um, jeder übernimmt einen Part – drei Grundcodes in einer Geschichte über die Gefangenheit der Menschen im Göttlichen und wie sie sich davon befreien.
Christian Manuel Oliveira entdeckt eine große Weisheit
Während die Regisseure, Schneider, Stengele und der Berliner Stephan Suschke, der in Würzburg „Ödipus Rex" inszenierte, über ihren Inszenierungen brüten, versucht der Schauspieler Oliveira zu entschlüsseln, was er und der Orest, den er spielt, miteinander zu tun haben. Er sinniert über die lange Flucht des Titelhelden, über den Versuch der Aussöhnung mit der Mutter nach dem Mord, über den Weg vom schicksalverhafteten zum autonomen Menschen – das erinnert an großeThemen in Freuds Psychoanalyse. Oliveira entdeckt in den griechischen Göttern „Repräsentanten der verschiedenen Aspekte des Menschseins" und findet darin „eine große Weisheit". Ihn beschäftigen die Wirkung der Farben und der Kargheit Griechenlands auf die Menschen wie den Regisseur Suschke die Hitze (vor der er vergeblich zu fliehen versucht). Alle Eindrücke und Wahrnehmungen, glauben die Theaterleute, senken sich in ihnen ab und werden Einfluss nehmen auf die Produktion.
Alles, was war, ist noch da
Klare Antworten finden aber nur wenige auf dieser Reise. Die Fülle von Eindrücken, die dichte Atmosphäre in den Heiligtümern, die zahlreichen Unterweisungen und Vorlesungen des Würzburger Archäologieprofessorss Ulrich Sinn und der griechischen Volkskundlerin Lilly Antzaka-Weiß sorgen für tiefe Gedankengänge. Oliveira etwa geht nicht aus den Kopf, dass „alles noch hier ist, der Staub, selbst die Biomasse" der Menschen, die im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung mit den griechischen Göttern lebten. Die Grenzen zwischen Mythos und Realität verschwinden auch für ihn.