Sie morden und rächen und morden wieder und das Leiden und Sterben scheint kein Ende zu nehmen. Die alten Griechen, verschlagen, lüstern und machtgeil, mal im Bunde mit ihren Göttern, mal im Zwist, hintergehen und massakrieren einander, wie es sich ergibt. Weil sie aber auch Sehnsüchte haben, nach Liebe, Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden, plagen sie sich ab, um herauszukommen aus dem blutigen Kreislauf.
Aischylos hat das Kämpfen und Sehnen vor 2500 Jahren in der „Orestie“ niedergeschrieben. Für Hermann Schneider, den Intendanten des Mainfranken Theaters, ist diese Tragödie „einer der wichtigsten, bedeutendsten und umfangreichsten Texte des abendländischen Theaters“, und die Keimzelle des Theaters auch. Aischylos zeige einen kulturgeschichtlichen Wandel auf, vom schicksalsbehafteten zum autonomen Menschen, der seine Verantwortung in und für die Gesellschaft erkennt.
Die Laien müssen sich schinden
In den verwaisten Räumen des Autonomen Kulturzentrums (AKW) probt das Mainfranken Theater mit der „Orestie“ eine Geschichte, die, so Schneider, „in ein autonomes Bewusstsein mündet“. Die Theaterleute haben im großen Saal einen Tanzboden ausgelegt und die Maße der Bühne des Großen Hauses darauf markiert. Hier probt auch eine der Besonderheiten der Inszenierung: der Bürgerchor, 54 Frauen, 14 Männer, allesamt Laien. Sie haben drei mit Regisseuren zu tun, jeder übernimmt einen der drei Teile: Schauspielchef Bernhard Stengele, Stephan Suschke (dem Publikum bekannt unter anderem von der Inszenierung „Ödipus Rex“) und Schneider selbst.
Die Regisseure gehen mit großem Anspruch ans Werk – Schneider spricht von der „wichtigsten Inszenierung des Theaters, wir nehmen uns etwas ganz Großes vor“. Ein Casting für die Laien gab es trotzdem nicht, das Theater nahm jeden. Der Intendant sagt, das sei eine politische Entscheidung. In der Antike sei der Chor immer aus „den Vornehmsten der Gesellschaft“ zusammengesetzt gewesen, von denen sei auch keiner aussortiert worden. Und es gehöre zum politischen und künstlerischen Selbstverständnis seines Hauses, „dass Bürger dieses Theater ermöglichen“.
Die Qualität soll trotzdem nicht leiden. Regisseur Suschke kündigte Arbeitsformen an, „mit denen wir Dinge möglich machen. Wir werden Mittel und Wege finden, ohne den Anspruch zu senken.“ Für die Laien heißt das: arbeiten, arbeiten, arbeiten. Sie starteten im Februar mit sieben zweistündigen Trainings, eine zweitägiger Workshop folgte, seit Ende Mai proben sie dreimal die Woche jeweils vier Stunden lang.
Sinn gibt Impulse
Christine Johner, die Sprecherin des Mainfranken Theaters, berichtet, das Haus habe sich für eine Produktion noch nie so mit der Uni vernetzt wie für „Die Orestie“. Der Archäologe Prof. Dr. Ulrich Sinn, inhaltlich und organisatorisch maßgeblich für das Projekt, betreut die Produktion als historischer Sachverständiger, begleitet sie mit wissenschaftlichen Vorträgen und ist auch bei den Proben dabei. Sinn gab den Impuls zu einem Satyrspiel, das an die dreiteilige „Orestie“ anschließt. Solche Spiele waren in der Antike üblich, als witziges Gegengift für das traumatisierte Publikum, das am Ende alle Protagonisten tot am Boden oder im Blut stehen sah. Aischylos' finaler Spaß ist verloren gegangen; mit Sinns Hilfe produziert das Theater einen eigenen, neuen.
Der Archäologie-Professor ist Direktor der Antikensammlung des Martin-von-Wagner-Museums im Südflügel der Residenz, ein Stockwerk über der Landesausstellung „Wirtschaftswunder und Wiederaufbau“. Das Museum zeigt eine bemerkenswerte Ausstellung zur Orestie: „Morde, Rache und Versöhnung“ heißt sie, stellt die Zeit und die Umstände vor, in der Aischylos das Werk schrieb, und auch die Geschichte und Bedeutung des Theaters in der Antike.
Und jetzt die Griechenland-Exkursion. Sinn führt die Theaterleute – alle, die im Haus mit dem Projekt zu tun haben – „zu den Quellen“, sagt er, um Theorie und Praxis „so eng wie möglich miteinander verzahnen“. Für die Kosten kommen Sponsoren auf, eine Benefizveranstaltung brachte zusätzlich Geld. Kein Cent, sagt Sinn, werde dafür aus der Theaterkasse ausgegeben. 37 Leute fahren mit, Sponsoren begleiten die Theatermacher und die Main-Post ist auch dabei. Das Programm ist enorm: Besuch von Heiligtümern, antiken Spielstätten und Herrschersitzen; eine Diskussion mit Experten für antikes Theater an der Theaterwissenschaftlichen Universität in Athen. Dazwischen Proben und Entwickeln des Stoffes und wenig Zeit zum Ausruhen. Sinn sagt, das Ensemble stimme sich „mental auf das Vorhaben ein“.
Die Ausstellung zum Stück im Martin-von-Wagner-Museum ist bis 28. Februar 2010 zu sehen, dienstags bis samstags von 10 bis 17 Uhr, sonntags von 10 bis 13.30 Uhr.
Im Blickpunkt
Die Orestie Aischylos führte seine „Orestie“ zum ersten Mal 458 vor unserer Zeitrechnung in Athen auf. Das Stück: Agamemnon hat seine Tochter Iphigenie für eine Göttergunst geopfert. Seine Gattin bringt ihn dafür um, ihr Sohn Orest ermordet sie und ihren Liebhaber. Rachegöttinnen machen dem Rächer die Hölle heiß, zahlreiche Götter mischen mit, bis Orest der Prozess gemacht und der Kreislauf der Rache durchbrochen wird.
Online-Tipp
Main-Post-Reporter Wolfgang Jung begleitet die achttägige Exkursion des Theaters nach Griechenland und regelmäßigh berichten, in Wort und Bild, auf www.mainpost.de/orestie