Korinth
Orestie-Exkursion: Sinnliche Barbarei
Bernhard Stengele, der Schauspieldirektor des Mainfranken Theaters, will Aischylos' 2500 Jahre alte Tragödien-Trilogie "Die Orestie" unbedingt auf die Große Bühne in Würzburg bringen. Im Interview, geführt nahe Korinth, sagt er, warum und welche Bedeutung die Orestie-Exkursion des Schauspiel-Ensembles hat.
Sie wollten „Die Orestie“ im Mainfranken Theater haben. Warum?
Bernhard Stengele: Nachdem ich vier Jahre lang kontinuierlich mit dem Ensemble gearbeitet habe, war es an der Zeit, einen richtigen Klopper zu landen, an dem jeder beteiligt ist, wo es lauter große Rollen gibt. Die Zeit war reif dafür.
Gibt es auch inhaltliche Gründe?
Stengele: „Tun, leiden, lernen.“ Dieser Satz aus der Orestie hat mich so angesprungen, weil er sich mit meiner Lebenserfahrung deckt. Wir müssen immer handeln aufgrund unzureichender Informationen, dann sehen wir das Ergebnis. Oftmals leiden wir darunter und lernen daraus. Das ist das Urmotto der Orestie.
Sie arbeiten mit vielen jungen Leuten. Wie kriegen Sie es hin, dass die Schauspieler 2500 Jahre alte Figuren verstehen und umsetzen können?
Stengele: Das ist eine Grundfrage an die Schauspielerei: Wie man spielt man einen Mörder, obwohl man keiner ist. In der Orestie geht es ja sehr viel um Mord und Totschlag. Das ist die besondere Fähigkeit eines Schauspielers, dass er sich in die tiefsten Tiefen der menschlichen Seele hineinfindet. Speziell für die Orestie – das ist natürlich einer der Hauptgründe, warum wir nach Griechenland gefahren sind: Um das ganze, was so weit entrückt ist, was humanistischer Bildungskanon ist, ein bisschen konkreter zu machen, nämlich dass es sich um eine Barbarei handelt, aber auch zu verstehen, wie in so einer Landschaft, so einer Kultur, so ein Mythos überhaupt entstehen kann. Die Reise zeigt auch, wie konkret alle anfangen, über ihre Figuren nachzudenken und mit ihnen zu leben. Und das ist natürlich das Größte, was man haben kann.
Was haben Orestes und Co. und die Barbarei in der Orestie mit uns zu tun?
Stengele: An der wahnsinnig hohen Brutalität hat sich nichts geändert. Die Auseinandersetzung, die jeder in seinem Leben hat, mit Momenten des Zurückgesetzwerdens, der Rache innerhalb der eigenen Familie, ich denke nur an Erbstreitigkeiten, in den Abgründen unserer Seele hat sich gar nichts geändert. Wenn sich die Menschheit geändert hätte, würden wir das Stück natürlich nicht mehr spielen. Aber es ist brandaktuell. Das ist auch ein bisschen deprimierend.
Können wir etwas lernen aus der Orestie?
Stengele: Die Orestie besteht aus drei Tragödien. Wir haben im zweiten Teil …
… den Sie inszenieren …
Stengele: … wahnsinnig große Probleme mit der Umsetzung, weil er sich frauenfeindlich geäußert hat. Was Euripides zum Beispiel nicht getan hat.
Deswegen wurde er auch davon gejagt.
Stengele: Genau. Wir haben zunächst einmal eine starke Auseinandersetzung. Wir setzen unsere heutige Erfahrung ins Verhältnis zum Text. Und der eigentliche Lernprozess, der in dieser Produktion für mich der überragende ist, ist der, dass wir lernen, dass 70, 80 Leute zusammen Theater machen können. Der Weg, den wir beschreiten, ist das Künstlerische daran.
Kann das Publikum von einer Orestie, der ein einwöchiger Griechenland-Aufenthalt des Ensembles vorausgegangen ist, etwas anderes erwarten als von einer Orestie, die ausschließlich zuhause vorbereitet wurde?
Stengele: Ja. Wobei das im Äußerlichen nicht unbedingt der Fall sein wird. Aber es wird mit Sicherheit sehr viel mehr Konkretion geben. Unser Versuch ist, den Pathos in der Sprache nachzuempfinden. Das ist in Deutschland außerordentlich schwierig. Aber mit dieser Reise bringen wir in einer neuen Art einen Pathos in die Darstellung, der nicht lächerlich wirkt. Das ist die größte Gefahr, dass Pathos lächerlich wirkt. Weil die Orestie so pathetisch ist, wird das Pathos oft ganz rausgenommen, und dann wird es so eine moderne, irgendwie modern geartete belanglose Veranstaltung. Ich glaube, unsere Produktion wird sehr, sehr viel sinnlicher, als man sie sonst sieht.
Wenn Sie mit den Schauspielern zusammensitzen und arbeiten, wirken Sie fast wie ein Guru. Sind Sie einer?
Stengele: Nein, gar nicht. Die Aufgabe für mich ist, dass wir jeden Tag wachsen, dass wir unseren Horizont erweitern. Wer nach einem Jahr weggeht, speziell nach dieser Reise, wird ein anderer sein als der, als der er gekommen ist. Der Grund für meine Arbeit sind die Produktionen, die Premieren. Aber darauf hinzuarbeiten, uns jeden Tag zu erweitern, künstlerisch und auch menschlich, das ist mein Grundmotor meiner Arbeit.
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