Die Auswahl fällt schwer. Mit den Biografien von 2000 Chirurgen hat sich Dr. Christoph Weißer über viele, viele Jahre beschäftigt. Und wenn er jetzt gefragt wird, welcher Mediziner für ihn selbst wichtig ist, welche Chirurgen-Kollegen besonders herausragen – dann muss er abwägen. Und nennt, nach einem kurzen Moment des Überlegens, zum Beispiel Ernst von Bergmann.
1836 in Riga geboren, war von Bergmann in den Kriegen von 1866 und 1870/71 als Truppenarzt tätig gewesen, ab 1871 dann Professor für Chirurgie. Erst im estnischen Tartu, damals Dorpat, dann einige Zeit an der Universität Würzburg, schließlich in Berlin. „Er war ein virtuoser Operateur, der zeitlebens die Wundinfektion studierte, die Antisepsis verbesserte und die Asepsis einführte“, sagt Christoph Weißer über Ernst von Bergmann, der 1887 zu den Ärzten gehörte, die den an Kehlkopfkrebs erkrankten späteren Kaiser Friedrich III. behandelten. Vorher hatten die Chirurgen zwar die Operationsbestecke desinfiziert und möglichst keimarm gemacht. Von Bergmann aber setzte alles daran, dass die Bakterien möglichst gar nicht erst in den Operationssaal gelangten. In Berlin führte er für die Instrumente die Dampfsterilisation und damit das Prinzip der Asepsis ein.
Dass der ehemalige Militärarzt und Würzburger Ordinarius auch eine Pinzette mit scharfen Spitzen und einer Feststellvorrichtung zur Blutstillung entwickelte, heute noch Bergmann-Schieberpinzette genannt – auch das ist jetzt nachzulesen: im „Chirurgenlexikon“, in dem Christoph Weißer das Leben und Werk von 2000 Persönlichkeiten, die für die Entwicklung der Chirurgie wichtig waren, in aller gebotenen Kürze und nötigen Ausführlichkeit zusammengestellt hat. Weil, wie Weißer sagt, da „eine Lücke“ drohte. Und weil die jungen Operateure in der Klinik heute nicht mehr wissen, wer eigentlich hinter einem Langenbeck-Haken, einem Fritsch-Haken oder einer Kocher-Klemme steht.
Bis vor drei Jahren war Weißer Unfall- und Notfallchirurg an der Würzburger Universitätsklinik – und Lehrbeauftragter für Medizingeschichte. Als er in den 1970er Jahren Medizin, Germanistik und Geschichte studierte, habe er sich gar nicht speziell für Chirurgie interessiert, sagt der 66-Jährige. Aber dann blieb er dabei – weil ihm „der handwerkliche Aspekt“ gefiel. Und weil es in der Unfallchirurgie nicht wie in der Allgemeinchirurgie der inneren Organe eher um das Herausschneiden, um das Entfernen geht. Sondern um das Wiederherstellen und Reparieren. Darum, gebrochene Knochen geradezurücken, zerstörten Gelenke die Funktionsfähigkeit zurückzugeben, Gliedmaßen wieder anzunähen. „Befriedigend“, sagt Weißer dazu nur. „Es macht Freude, dass man mit seiner Hände Arbeit den Menschen helfen kann.“
An der Uniklinik erlebte Weißer drei Chefs, Digitalisierung und Bürokratisierung der Medizin. Und verlor nie das Interesse an der Geschichte seines Fachs. In seiner Promotion hatte Weißer sich schon mit mittelalterlichen Krankheitsprognose-Texten beschäftigt. Und wann immer es ging, forschte und arbeitete er auf dem Feld weiter, auch als Schriftleiter medizinhistorischer Zeitschriften. Durch seine publizistische Tätigkeit sah der Würzburger Chirurg auch jene Lücke: 1980 war eine letzte Auflage von „Meister der Chirurgie und die Chirurgenschulen im gesamten deutschen Sprachraum“ von Hans Kilian erschienen. Ein dickes Sachbuch mit Biografien der Lehrstuhlinhaber, beginnend in der Zeit um 1800.
Die Chirurgie war spät akademisches Fach geworden. Seit dem Altertum waren zwar Blasensteine oder Leistenbrüche behandelt worden. Aber über Jahrhunderte machten Bader und Wundärzte mit handwerklicher Ausbildung die Eingriffe. „Man konnte noch lange nicht operativ an Bauchorgane rangehen oder Knochenbrüche reparieren“, sagt Weißer. Erst die Einführung von Narkose und Antisepsis machten größere Eingriffe überhaupt möglich. Und, sagt Weißer, „mit den Antibiotika ging die moderne Chirurgie im 20. Jahrhundert dann richtig los“. Kilians „Meister der Chirurgie“ führte eben wichtige Mediziner auf. Aber nur aus dem deutschsprachigen Raum und nur Ordinarien bis 1980.
Weißers Idee: „Da könnte man doch einen Anschluss wagen.“ Aus dem Plan, das Werk mit Blick auf die Lehrstuhlbesetzungen fortzuschreiben, wurde schnell mehr. Denn, sagt Weißer, „Schulen“ im alten chirurgisch-handwerklichen Sinne gibt es heute nicht mehr. Und die chirurgischen Fächer werden immer spezialisierter, die Zahl der Lehrstühle hat sich vervielfacht. Weißer wollte sich nicht nur auf die Ordinarien beschränken. Und er wollte die Entwicklung einzelner Operationsmethoden aufführen und Personen aus anderen Fachrichtungen nennen, die wichtige Grundlagen für die Chirurgie geschaffen hatten – Konrad Röntgen zum Beispiel.
Der Würzburger Chirurg und Medizinhistoriker fing an, Namen und Literatur zu sammeln, durchforstete Reallexika und Instrumentenkataloge auf der Suche nach Eigennamen. Der elektronische Zettelkasten wuchs – Weißer hatte sein Vorhaben leicht abgeändert. Neuer Plan: ein biografisches Lexikon zu historischen, also verstorbenen Persönlichkeiten, die für die Entwicklung der Chirurgie und der benachbarten Fachgebiete von der Antike bis zur Gegenwart eine Rolle spielten.
Den Schwerpunkt legte er auf den deutschsprachigen Raum, aber Weißer berücksichtigte auch wichtige Persönlichkeiten anderer Sprachgebiete und ergänzte die knappen Biografien mit Entdeckungen, Erfindungen und Ersteingriffen und wichtigen Publikationen. „Wir stehen alle auf den Schultern unserer Vorläufer“, sagt der ehemalige Unfallchirurg. Und sieht „in unserer zunehmend ahistorischen Zeit“ den Blick auf die Leistungen der zurückliegenden Generationen schwinden. „Es ist ganz offensichtlich nur noch das wichtig, was gerade aktuell auf den Servern des Internets gespeichert ist“, sagt Weißer. Bei der nächsten Aktualisierung sei das Vorausgehende gelöscht, verschwunden, nicht mal mehr Makulatur. „Für viele Namen wird man heute was online finden. Für mindestens so viele aber halt nicht.“
Auf personelle Situationen treffe das ganz besonders zu. Vorlesungsverzeichnisse, Chirurgen- oder Klinikverzeichnisse würden kaum noch gedruckt – und damit auch nicht mehr dauerhaft archiviert. Über die Namensgeber der diversen Haken, Klemmen oder OP-Scheren wüssten die jungen Chirurgenkollegen auch kaum mehr Bescheid.Auch deshalb hat Weißer das bündige Nachschlagewerk geschrieben: Sein Kompendium zur Geschichte des Fachs hält „das Wissen um wichtige chirurgische Vorgänger präsent“.
Und welche Vorgänger sind für ihn die bedeutendsten, prägendsten? Christoph Weißer überlegt. „Sauerbruch ist natürlich in jeder Hinsicht wichtig.“ Der Professor der Berliner Charité, einer der einflussreichsten Chirurgen des 20. Jahrhunderts, war berühmt geworden durch die Einführung einer Unterdruckkammer bei Operationen: So könnte der Brustkorb geöffnet werden, ohne dass sich Luft im Brustfellraum ansammelte und die Lunge zusammenfiel. 1931 gelang Sauerbruch die erste erfolgreiche Operation eines Herzaneurysmas, außerdem erfand und veränderte er etliche chirurgische Instrumente. „Bahnbrechend“, sagt Weißer. Für ihn selbst sei Martin Kirschner wichtig, lange Jahre Professor für Chirurgie in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad: „Ein immens pragmatischer Chirurg, der auf vielen Ebenen geforscht und Dinge entwickelt hat.“
Für Würzburg, sagt Weißer, sei Werner Wachsmuth wichtig, Chirurg, Militärarzt und Professor an der Julius-Maximilians-Universität von 1946 bis 1969. Er baute die Chirurgie nach dem Krieg wieder auf, leitete zeitweise auch die Frauenklinik, förderte in den 1960er Jahren den Bau einer Krankengymnastikschule an der Chirurgischen Uniklinik, außerdem die Entwicklung der neuen Fachgebiete Urologie und Lungenchirurgie- „Und Wachsmuth befasste sich viel mit juristisch-medizinischen und ethisch-philosophischen Problemen in der Medizin.“ Wachsmuths Nachfolger, Ernst Kern, wurde dann zum ersten akademischen Lehrer von Christoph Weißer. „Wie man auf den Patienten zugeht, das habe ich noch von Ernst Kern.“
Wer war das noch einmal? Wer lehrte hier? Wer war damals in Wien, in München, in Paris? Zu den 2000 Chirurgen, die Weißer zusammengetragen hat – mal schaffte er 20 Kurzbiografien am Tag, mal drei – sind etliche ehemalige Würzburger dabei. Und so nennt Christoph Weißer bei der Frage nach für ihn herausragende Kollegen auch noch Fritz König, 1921 erster Direktor des Würzburger Luitpoldkrankenhauses: „Ein Pionier der operativen Knochenbruchbehandlung.“
Was beim Blättern durchs lange Suchverzeichnis und die ausführlichen Sach- und Ortsregister auffällt: die lange Liste an diversen Kriegen. Die Chirurgen waren auf dem Feld die wichtigsten Mediziner gewesen. Und, besonders auffällig: Unter all den 2000 Namen ist keine einzige Frau. „Ein Männerberuf“, sagt Christoph Weißer, „daran hat sich nicht viel geändert.“
Buchvorstellung: „Chirurgenlexikon. 2000 Persönlichkeiten aus der Geschichte der Chirurgie“ von Christoph Weißer, Springer Verlag Heidelberg, 501 Seiten, 99,99 Euro. Am Freitag, 5. Juli, stellt Christoph Weißer das Lexikon und die Arbeit daran an der Uniklinik Würzburg öffentlich vor: um 14 Uhr im Hörsaal im Zentrum für Operative Medizin (ZOM).