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WÜRZBURG
"Ohne das Judentum wäre Deutschland ärmer"
Neuer Vorstand bei den Freunden mainfränkischer Kunst und Geschichte e.V. Würzburg       -  Matthias Stickler ist Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität Würzburg.
Foto: Daniel Peter | Matthias Stickler ist Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität Würzburg.
Michael Czygan
 |  aktualisiert: 03.12.2019 10:35 Uhr

Dass sich nach der Ermordung von sechs Millionen Juden wieder jüdisches Leben in Deutschland etabliert hat, ist eine Erfolgsgeschichte. Professor Dr. Matthias Stickler forscht über die Wiederbeheimatung der Juden nach 1945. Er sucht dabei auch nach Erklärungen für den wachsenden Antisemitismus. Im Interview wünscht sich der Historiker mehr Selbstverständlichkeit im Umgang mit jüdischer Kultur.

Frage: Herr Professor Stickler, dass nach dem Holocaust überhaupt wieder Menschen jüdischen Glaubens im Land der Mörder leben, ist nur schwer nachvollziehbar. Können Sie es erklären?

Matthias Stickler: Nur eine kleine Minderheit deutscher Juden kehrte nach 1945 in die angestammte Heimat zurück. Hinzu kamen sogenannte Ostjuden, die aus den Ghettos und Konzentrationslagern zunächst nach Hause, vor allem in Polen, zurückkehrten, dort aber vielfach einen neuen, eigentlich den alten Antisemitismus vorfanden. Deswegen wanderten sie weiter in das Vier-Zonen-Deutschland. Für viele war Letzteres aber nur eine Durchgangsstation – für die Auswanderung nach Palästina, später Israel, oder in die USA. Ein Teil blieb schließlich, weil sich die Auswanderung verzögerte und die Menschen inzwischen hier Wurzeln geschlagen hatten. So entstand ein neues Judentum in Deutschland.

Vor 1933 lebten in Deutschland rund eine halbe Million Juden. Wie viele waren es nach dem Krieg?

Stickler: Unmittelbar nach der Katastrophe waren es ein paar hundert, Anfang der 1950er Jahre in der Bundesrepublik dann schon wieder 17 000, bis zur Wende 1989/90 stieg die Zahl auf etwa 30 000.

Es sind auch Juden, die bereits emigriert waren, wieder nach Deutschland zurückgekommen.

Stickler: Das beste Beispiel ist die Familie von Josef Schuster, des heutigen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Schuster selbst wurde 1954 in Haifa geboren und zog als kleines Kind mit seiner Familie nach Franken um. Vor allem sein Großvater, Julius Schuster, der aus Bad Brückenau stammte, wollte wieder zurück. Ähnlich war es auch bei dem bekannten Münchener Historiker Michael Wolffsohn.

Alle Rückkehrer hatten Angehörige durch den Nazi-Terror verloren. Dennoch wollten sie hier leben. Was waren ihre Motive?

Stickler: Zu einem großen Teil war das schlicht und einfach Heimweh. Im Nahen Osten herrschte ein anderes Klima, dort lebten andere Menschen, mit einer anderen kulturellen Prägung. Die Familie Schuster etwa war ja über Jahrhunderte in Franken ansässig gewesen. Viele Emigranten aus Europa hatten auch Sprachprobleme, weil sie das Neuhebräische erst lernen mussten. Der Gebrauch der deutschen Sprache war als Folge der Shoah vielfach tabuisiert.

Haben andere Juden die Rückkehrer denn verstanden?

Stickler: Oftmals nicht. Gerade die internationalen jüdischen Organisationen gingen davon aus, dass es kein jüdisches Leben mehr in Deutschland geben könne. Dass jemand freiwillig zurückkehrt, lag damals für die meisten außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Vielfach sagte man, jüdisches Leben in Deutschland darf es nicht mehr geben, dort ist kein Boden für Juden.

Der Adenauer-Staat hat einiges unternommen, um Vertrauen wiederzugewinnen.

Stickler: Zwar wurden einerseits gerade auch von jüdischer Seite – nicht zu Unrecht - Vorwürfe laut, viele alte Nazis seien wieder in Amt und Würden. Andererseits hat die Bundesrepublik viel dafür getan, die Verbrechen – soweit dies überhaupt möglich ist - wiedergutzumachen und die Juden zu entschädigen. Konrad Adenauer war dies auch persönlich ein großes Anliegen.

Der Staat hat sich auch beim Neuaufbau der jüdischen Gemeinden engagiert.

Stickler: Ein gutes Beispiel ist die israelitische Kultusgemeinde für Würzburg und Unterfranken. Für den Bau der neuen Synagoge in den 1960er Jahren hat die Stadt nicht nur die Bauträgerschaft übernommen, sie war auch der Hauptgeldgeber. Die Initiative dafür ging sehr stark vom damaligen Oberbürgermeister Helmuth Zimmerer aus. Und dies, obwohl der einst der SS beigetreten und Autor einer rassistisch-antisemitischen Doktorarbeit war.

Wie erging es den Juden in der DDR? Immerhin nahm die für sich in Anspruch, der wahre antifaschistische deutsche Staat zu sein.

Stickler: In der DDR lebten deutlich weniger Juden, am Ende waren es nur noch 350. Auch hier gab es nach dem Krieg Rückkehrer wie die Schriftstellerin Anna Seghers, die Journalisten und kommunistischen Politiker Gerhart Eisler und Albert Norden. Sie beteiligten sich aber nicht am Gemeindeleben. Viele gläubige Juden verließen die DDR nach und nach, der sozialistische Staat war für sie nicht attraktiv. Eine Wiedergutmachung oder Entschädigung wie in der Bundesrepublik gab es nicht, weil die DDR es ablehnte, Mitverantwortung für NS-Verbrechen zu übernehmen.

Die Gründung des Staates Israels schuf weitere Distanz.

Stickler: Der Ostblock hatte zunächst gehofft, da könnte ein weiterer Staat der sozialistischen Weltgemeinschaft entstehen. Als sich dann in Israel eine westliche Demokratie entwickelt, verschmolzen Elemente eines alten rechten Antisemitismus mit Elementen eines linken Antisemitismus, der im Staat Israel vor allem die Charaktermaske eines kapitalistischen Imperialismus erblickte. Vor diesem Hintergrund galten Juden in der DDR vielfach als potenziell unsichere Kantonisten, die man misstrauisch beäugte.

Israelkritik hat auch bei der Linken in Westdeutschland eine Rolle gespielt. War diese antisemitisch motiviert?

Stickler: Das wäre mir zu pauschal. Aber es gibt auch bei der radikalen Linken im Westen Berührungspunkte zwischen Israelkritik in der Sache und biologistisch-rassistischem Antisemitismus. Da leben Stereotype vom „jüdischen Weltkapitalismus“ fort, die es schon vor 1933 gab. Auf Karikaturen findet man fette Kapitalisten mit Hakennasen, das appelliert an antisemitische Klischees. Hinzu kommt eine bei der radikalen Linken verbreitete Solidarität mit den Feinden des Staates Israel, die auf der Vorstellung aufbaut, dieser sei ein westliches koloniales Projekt.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs beschließt die Bundesregierung in Abstimmung mit dem Zentralrat die Aufnahme sogenannter jüdischer Kontingentflüchtlinge aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Damit verdreifacht sich die Zahl der Juden in Deutschland auf rund 100 000. Die Integration lief sehr geräuschlos. Warum?

Stickler: Der Zentralrat und vor allem die jüdischen Gemeinden vor Ort haben viele Anstrengungen unternommen, dass diese Menschen integriert werden konnten. Das war gar nicht so einfach, denn die meisten sprachen nicht einmal deutsch. Entscheidend war, dass es den unbedingten Willen gab, in Deutschland heimisch zu werden.

Heute leben in Deutschland 100 000 Juden. Gerade in Großstädten sehen sie sich immer häufiger antisemitischen Übergriffen ausgesetzt. Können Sie das als Historiker erklären?

Stickler: Antisemitismus hat es immer gegeben, auch nach 1945, der ist nicht plötzlich über uns gekommen. Aber es scheint heute wieder leichter möglich zu sein, entsprechende Vorurteile öffentlich zu äußern. Früher hat sich das eher im Verborgenen abgespielt.

25 Prozent der Deutschen sagen, sie wollen keinen Juden als Nachbarn. Woraus resultiert das?

Stickler: Es gibt Vorurteilsstrukturen, die langlebig sind. Um Antisemit zu sein, braucht man nicht unbedingt Juden in der Nachbarschaft. Vielleicht sind gerade Menschen, die keine Juden kennen, besonders anfällig für bestimmte Vorurteile. Sie haben keine Möglichkeit und vermutlich auch nicht den Willen, sich eines Besseren belehren zu lassen. Ich halte es auch für wahrscheinlich, dass gerade der sichtbare Erfolg der Wiederbeheimatung von Juden in Deutschland Vorurteile provoziert und Neid weckt. Gebäude wie das Kulturzentrum Shalom Europa in Würzburg oder die neue Synagoge in München sind möglicherweise einer wachsenden Minderheit ein Dorn im Auge.

Juden verstehen sich als ganz normale Staatsbürger. Das war vor 1933 auch so, sie haben Deutschland als ihr Vaterland bezeichnet und für dieses beispielsweise im Ersten Weltkrieg gekämpft.

Stickler: In der Tat war der Patriotismus der deutschen Juden vor 1933 beeindruckend. Dies beirrte die Antisemiten allerdings nicht. Der Antisemitismus ist ja ein sehr altes Phänomen. Da gibt es den christlich motivierten Antijudaismus aus dem Mittelalter, der Vorwurf, die Juden hätten Christus ermordet. Im 19. Jahrhundert wurde der Antisemitismus dann pseudowissenschaftlich unterfüttert, indem er rassistisch-biologistisch aufgeladen wurde. Da ging es dann nicht mehr um Religion. Kennzeichen für den modernen Rasse-Antisemitismus ist, dass auch zum Christentum konvertierte Juden weiterhin als Juden angesehen werden, die als „artfremd“ gelten.

Gleichwohl haben Juden deutsche Geschichte mitgeschrieben.

Stickler: Der Antisemitismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert ist auch eine Reaktion darauf, dass Juden, egal ob als Ärzte, Juristen, Architekten oder Künstler, wie etwa Felix Mendelssohn Bartholdy, überproportional erfolgreich waren. Das provozierte Missgunst. Viele Juden reagieren wiederum auf die Vorurteile mit einem besonders emphatischen Patriotismus. Deshalb kämpften so viele deutsche Juden als Freiwillige im Ersten Weltkrieg. Dennoch mussten sie als Sündenböcke herhalten, als der Krieg verloren ging.

Zurück in die Gegenwart. Welche Rolle beim heutigen Antisemitismus spielt die Zuwanderung?

Stickler: Ich möchte nicht pauschalisieren, aber man muss schon sehen, dass ein Teil der Migranten, vor allem aus dem muslimisch-arabischen Raum, juden- und israelfeindliches Gedankengut mitbringt. Das kann sich dann mit vorhandenen antisemitischen Überzeugungen verbinden.

Was kann man tun, um Antisemitismus zu begegnen?

Stickler: Auch wenn es eine Binsenweisheit ist: Die Bildungseinrichtungen sind gefordert – und Zivilcourage. Es muss allen Menschen, die in Deutschland dauerhaft leben möchten, klar sein, dass jüdisches Leben in diesem Land eine Selbstverständlichkeit ist, dass es Teil unserer Leitkultur ist, um diesen ja durchaus umstrittenen Begriff einmal hier zu verwenden. Jeder muss wissen, dass Antisemitismus und andere Rassismen abgelehnt und strafrechtlich verfolgt werden.

Der Zentralrat der Juden plädiert dafür, den Besuch von KZ-Gedenkstätten für alle Schüler zur Pflicht zu machen.

Stickler: Ich bin mir nicht sicher, ob derartige, gut gemeinte Maßnahmen wirklich erfolgreich sind. Aber jüdisches Leben muss für alle Schüler ein Thema im Unterricht sein, und zwar nicht nur fokussiert auf die Zeit zwischen 1933 und 1945. Die deutschen Juden haben unser Land über Jahrhunderte mitgeprägt, unsere Kultur ist ohne diesen Beitrag nicht denkbar. Die Shoa hat Deutschland ärmer gemacht und auch heute wäre Deutschland ohne das Judentum ärmer. Deutsche Juden sind keine Fremden, sondern Landsleute und Mitbürger. Das ist immer noch viel zu wenigen Menschen bewusst.

Prof. Dr. Matthias Stickler

Der Historiker, 1967 in Aschaffenburg geboren, lehrt neuere und neueste Geschichte an der Universität Würzburg. Eines seiner Hauptforschungsgebiete sind Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa von 1945 bis 1950 und ihre Integration in der Bundesrepublik. Von 2009 bis 2016 gehörte er dem wissenschaftlichen Beraterkreis der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ an. Aktuell beschäftigt ihn unter anderem die Wiederbeheimatung der Juden in Deutschland nach 1945. Historiker Stickler ist auch Vorsitzender der Freunde Mainfränkischer Kunst und Geschichte. micz
 
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