Wenn Michael Schmidt heute die Berichte über Kriegsflüchtlinge aus Syrien sieht, erinnert ihn das ein wenig auch an seine eigene Vergangenheit. 1944 wurde sein Heimatdorf Heidendorf in Siebenbürgen evakuiert. Nach einer zweijährigen Odyssee, deren Verlauf zum Teil der heutigen Balkanroute entspricht, fanden rund 600 Heidendorfer in vier Gemeinden nördlich von Uffenheim eine neue Heimat. Auf den Tag genau 70 Jahre ist das nun her.
Seit dem 13. Jahrhundert siedelten die Siebenbürger Sachsen am Westrand der Karpaten. Mit der Verheißung auf freies Land hatte der ungarische König Gejsa II. Siedler vorwiegend aus dem Rheinland in die Fremde gelockt. Sie sollten das Land urbar machen und zugleich ein Bollwerk gegen heranrückende Heere aus dem Osten abgeben.
Fast 800 Jahre lang lebten sie dort und pflegten ihre Sprache und ihre Kultur bis 1944 der Zweite Weltkrieg der deutschen Enklave ein Ende machte.
Die Rote Armee stand bereits in den Karpaten als am 10. September 1944 der deutsche General Phelps, selbst ein Siebenbürger Sachse, den Befehl gab, die Minderheit bis zum verheißenen „Endsieg“ ins Reich umzusiedeln, auch das 600-Seelen-Dorf Heidendorf.
14 Jahre war Michael Schmidt damals alt. Und er erinnert sich noch gut, wie seine Eltern und Nachbarn in höchster Eile ihr Hab und Gut zusammenpacken mussten. Greise, Schwangere, stillende Mütter und kleine Kinder sollten als Erste zusammen mit dem zurückweichenden deutschen Militär in Zügen nach Westen gebracht werden.
Es waren schließlich vor allem ältere Männer, Frauen und Jugendlichen, die sich am 19. September mit einem Treck aus 70 Planwagen in Bewegung setzten. Die meisten jungen Männer waren im Krieg.
Zwei Monate dauerte die Reise. Oft ging es aus Angst vor Tiefflieger-Angriffen auf schlechten Nebenstraßen. Die größte Sorge galt dem Wohl der Pferde, bis der Treck am 9. November die südmährische Stadt Nikolsburg erreichte. Von ansässigen Bauern wurden sie dort gut aufgenommen worden, erzählt Michael Schmidt. Diese wussten die Arbeitskraft der Neuankömmlinge zu schätzen, und die guten Pferde, die sie mit sich führten.
Hier hoffte man, bis zum Ende des Krieges ausharren zu können – vergeblich, wie sich wenigen Monate später zeigte. Die Front rückte näher, und beinahe wäre auch der noch nicht einmal 16-jährige Michael Schmidt noch zum Kriegsdienst eingezogen worden.
„Plötzlich hieß es, dass auch der Jahrgang '29 eingezogen wird“, erzählt er. Als letztes Aufgebot sollten die Jugendlichen nach kurzer Ausbildung nach Berlin geschickt werden, um die Hauptstadt zu verteidigen.
Michael Schmidt fand sich in einem provisorischen „Wehrertüchtigungslager“ wieder, Erdhütten dienten als Quartier. Lange sollte die Ausbildung jedoch nicht dauern. Eines Morgens hatten sich die Offiziere aus Angst vor der Gefangennahme aus dem Staub gemacht und überließen die jungen Männer ihrem Schicksal.
Die übrigen Heidendorfer mussten inzwischen ein zweites Mal fliehen. Erneut mussten Pferde und Ochsen angeschafft werden, ihre alten hatte die Wehrmacht requiriert. Am 8. April 1945, einen Monat vor der deutschen Kapitulation, setzte sich die Karawane gen Westen in Bewegung.
Während Michael Schmidt versuchte, sich auf eigenen Faust zu seiner Familie durchzuschlagen, zog der Treck durch den Böhmerwald in Richtung Passau. Am 26. April wurden sie auf dem Weg von einem Tieffliegerangriff überrascht, der Tote und Verletzte forderte. In der Nähe von Pfarrkirchen erlebten die Heidendorfer schließlich das Kriegsende.
Als erfahrene Landwirte und Handwerker versuchten sie dort Fuß zu fassen. „Man hat sich keine großen Gedanken gemacht, man war nur froh, den Schlamassel überlebt zu haben“, erzählt Michael Schmitt. Doch auch dieser Friede sollte nicht lange währen. Die Gemeinden waren mit Flüchtlingen und ihren Pferden überfüllt. Das Futter wurde knapp.
Außerdem sei es den protestantischen Siebenbürgern schwer gefallen, sich im katholischen Niederbayern zu integrieren, sagt Michael Schmidt. Dies habe schließlich die bayerische Staatsregierung veranlasst, die Heidendorfer ins lutherische Mittelfranken umzusiedeln, so Schmidt weiter.
Am 8. April 1946 wurde der Transportzug am Bahnhof Pfarrkirchen beladen, am 9. April in der Frühe erreichten sie Herrnberchtheim. Von dort wurden sie auf die evangelischen Gemeinden Gülchsheim, Geißlingen, Hemmersheim und Oberickelsheim verteilt.
An seine ersten Kontakte zu seiner neuen Heimat in Gülchsheim kann sich Michael Schmidt noch gut erinnern. „Ein Bauer kam auf uns zu und hat sich die Gäule angeschaut, dann hat er gesagt ,So, ihr geht mit auf meinen Hof‘“, erzählt er.
Obwohl schon eine Familie aus dem Sudetenland im Hof einquartiert war, fand sich noch Platz für Michael Schmidts Familie. Und sicher hatte die freundliche Aufnahme auch damit zu tun, dass allenthalben die Arbeitskräfte fehlten. Viele junge Männer waren noch in Gefangenschaft oder wurden getötet.
Die Neubürger waren erfahrene Bauern und Handwerker. Außerdem waren sie ehrgeizig, sagt Michael Schmidt. Nach ihrer fast zweijährigen Odyssee wollten sie es schnell zu etwas bringen. Einige von ihnen zogen später ins Ruhrgebiet weiter, dem Ruf des Wiederaufbaus und der aufstrebenden Montanindustrie folgend, andere siedelten nach Kanada aus. Michael Schmidt entschied sich, in Gülchsheim zu bleiben, ging bei einem Schmied in die Lehre und lernte seine Frau Elisabeth kennen.
Ein Sohn von Michael Schmidt zog später ebenfalls über den großen Teich. Der zweite, Gerhard Schmidt, lebt in Ochsenfurt und versucht die Erinnerung an die Heimat seiner Vorfahren wach zu halten. Eine Handvoll gebürtige Heidendorfer leben heute noch in den vier Gemeinden rund um Gülchsheim. Michael Schmidt ist mit seinen 87 Jahren der zweitälteste.
Seine alte Heimat hat er im Jahr 1990 wiedergesehen, als er sich bereit erklärte, mit dem Lastwagen eine Hilfslieferung für ein Waisenhaus nach Rumänien zu fahren. Die meisten Häuser im heutigen Viiºoara erkannte er dort wieder, doch darüber hinaus, erinnert kaum noch etwas an die lange deutsche Geschichte des Dorfes. Michael Schmidt möchte Heidendorf so in Erinnerung behalten, wie auf dem Ölgemälde, das in seinem Schlafzimmer hängt.
Auch die Entbehrungen, die er als junger Mann erlebt hat, sind heute beinahe in Vergessenheit geraten. Erst angesichts der heutigen Flüchtlingsströme denkt er wieder öfter daran zurück. „Es war schlimm damals, aber das Elend heute scheint mir schlimmer“, sinniert Michael Schmidt, „aber vielleicht denkt man nach so langer Zeit einfach anders darüber.“