Ludwig Pfeuffer aus Würzburg, 1924 geboren in der Augustinerstraße, 1936 mit seiner Familie geflüchtet nach Palästina, ist als Jehuda Amichai im Jahr 2000 gestorben, geehrt als einer der bedeutendsten Dichter des Landes Israel. In seinem ersten Roman, „Nicht von jetzt, nicht von hier“ erschienen 1963, arbeitet Amichai seine Kindheitserinnerungen auf. Würzburg wird bei ihm zu „Weinburg“.
"Wir vergessen, woher wir gekommen sind. Unsere / Jüdischen Namen aus dem Exil verraten uns, / Erinnern an eine Blume oder Frucht, / Mittelalterliche Städte, Metalle / Zu Stein gewordene Ritter, viel Rosen, / Wohlgerüche, deren Duft verschwunden. / Auch die Hände sind verschwunden."
Die Germanistin Renate Eichmeier und die Historiker Edith Raim haben ein Buch über Amichai herausgegeben: „Zwischen Krieg und Liebe“ heißt es, im jüdischen Kulturzentrum Shalom Europa stellten sie es vor.
Sie eröffnen die 220 Seiten mit einem Aufsatz Amichais: „Mein Judentum“. Darin schildert er seine Herkunft aus einer tief religiösen orthodoxen Familie, deren Wurzeln viele Jahrhunderte lang in Süddeutschland waren: in Giebelstadt und in Gersfeld, im Hessischen. Der Kreuzberg in der Rhön, schreibt er, „war für meine kindliche Fantasie der Berg Sinai“. Nahe Würzburg, „in einer Talmulde zwischen zwei bewaldeten Hügeln war für mich das Tal Eilah, in dem der junge Hirte, David, den Riesen Goliath besiegte“. Dass er später auf den richtigen Sinai stieg und im echten Tal Eilah biwakierte, änderte für ihn nichts an der „verinnerlichten Wahrheit des Erlebens“. Judentum und jüdische Geschichte geschahen für ihn auf deutschem Boden.
Amichai berichtet von einem kleinen gerahmten Bild mit der Aufschrift „Misrach“ (Osten), das es in fast allen jüdischen Häusern gab. Es deutete die Wand an, nach der man sich beim Beten zu wenden hatte: „Hinter dieser Wand begann der Osten. Die riesigen Flächen von Europa und Mittelmeer wurden ignoriert; es war da gleich das Land Israel, Jerusalem, Wüste, Milch und Honig und Gott.“
In Würzburg gab es einen jüdischen Kindergarten, eine jüdische Volksschule, ein jüdisches Lehrerseminar, ein jüdisches Krankenhaus, ein jüdisches Altersheim; der Knabe Ludwig lernte problemlos das Hebräische. Amichai beschreibt seine jüdische Welt als „gänzlich geborgen und vollkommen“. Seiner nichtjüdischen Umwelt sei er wohl bewusst gewesen, er habe ihre Feindseligkeit schon vor Hitler gespürt. Als Würzburger Kind war für ihn aktives Judentum „fast immer mit feindlicher Umwelt verbunden“. Eine „historische, christliche Feindseligkeit“ sei das gewesen, „auf die später der politische Antisemitismus der Nazis aufbaute.“
In Würzburg lernte er die gleichaltrige Ruth Hanover kennen, die Tochter des Rabbis; sie wird die Kameradin seiner Kindheit. 1943 bringen die Nationalsozialisten Ruth im südpolnischen Vernichtungslager Sobibor um. Christian Leo, ein Biograf Amichais, berichtet in „Zwischen Krieg und Liebe“, dass das „sonnige Wesen“ der innig-geliebten Ruth und ihr tragisches Schicksal Amichai zeit seines Lebens beschäftigten „und wohl zu den wesentlichsten Quellen seiner dichterischen Inspirationen zu rechnen sind“.
Frappierend ist die Aktualität mancher Erinnerungen Amichais an Kindheit und Judentum. So beschreibt er, wie „die Fremdheit und Feindlichkeit der Umwelt seine tiefe Zugehörigkeit zum Judenvolk“ verstärkte. Wie sein Vater, ein gebürtiger Giebelstädter, der mit Stolz in der Öffentlichkeit Gebetbücher und Gebetsmantel trug, so reagierten Muslime hierzulande auf ausbrechende Feindseligkeiten nach den Anschlägen vom 11. September 2001 – mit Rückzug in die Geborgenheit von Gemeinde und Religion, mit öffentlichem Bekennen durchs Tragen des Kopftuches.
Amichai meint, „dass gerade Schwierigkeiten, Feindseligkeit und Verfolgungen mehr zur Erhaltung des frommen Judentums im europäischen Exil beigetragen haben als das freie jüdische Palästina, das spätere Israel.“ Er zeigt auf, wie er sich, erwachsen geworden, von der Religion abwendete und doch Jude blieb, und was das Judentum für ihn bedeutete: „Sehnsucht nach irdisch-himmlischer Vergangenheit und Sehnsucht nach Zukunft“.
Jehuda Amichai
Prophetie im Judentum empfindet er nicht als Wahrsagerei, „sondern Sehnsucht nach Zukunft, die aus der Vergangenheit kommt und von ihr dauernd genährt wird“.
„Zwischen Krieg und Liebe“, der Titel des neuen Buches über Amichai, benennt die Pole in Amichais Leben. Er kämpfte in sechs Kriegen gegen arabische Staaten und er war ein Dichter der Liebe:
"Als wir uns liebten / verwandelte sich der Körper zum Ort, / und in unserem Gedächtnis / wird die Liebe zu atmen nicht wagen. / Gleich was wir anstrebten, / die Nacht verdunstet, / was wir nicht wurden / ist jetzt ein Feld. / ... / Still werden / Haus und Wüste erinnert, / weil der Liebesakt / das ist, was bleibt."
Zu den Autoren des Buches gehören mit den Herausgeberinnen und Amichai selbst dessen Witwe Hana Sokolov-Amichai, der Dichter Christoph Meckel und Glenda Abramson, eine emeritierte Professorin für Hebräische und Jüdische Studien an der Universität Oxford. Die lesenswerten, tief gehenden Aufsätze, ergänzt mit einer Reihe von Fotografien und einer Zeittafel, entwerfen neben einem facettenreichen Porträt Amichais eine Vorstellung von dem, was Jüdischkeit (auch) ist.
Das Buch "Zwischen Krieg und Liebe – Der Dichter Jehuda Amichai", herausgegeben von Renate Eichmeier und Edith Raim, ist erschienen bei Metropol und kostet 20 Euro.