Als „profiliertesten Experimentalkomponisten des 20. Jahrhunderts“ stellte Musikwissenschaftler Ulrich Konrad den 87-jährigen Dieter Schnebel vor, der beim Mozartlabor den erkrankten Wolfgang Rihm vertrat.
Im Exerzitienhaus Himmelspforten traf Schnebel auf Ulrich Isfort und Annette Reisinger vom Minguet Quartett sowie auf Kultur-Strategieberater Peter Gartiser, um mit ihnen über „Neue Musik in Oper und Konzertsaal“ zu diskutieren.
Noch umfassendere persönliche Eindrücke gewährte sein Gespräch mit Ulrich Konrad („Was ist Reife?“), in dem sich der 1930 im badischen Lahr geborene Komponist als wacher alter Herr mit Witz und Bodenhaftung präsentierte.
Pfarrer und Lehrer
Nach Studien der evangelischen Theologie, Philosophie und Musikwissenschaft entschied sich Schnebel für einen Brotberuf als Pfarrer und Schullehrer, um als Künstler frei zu sein. Später freilich folgte eine Professur für Experimentelle Musik an der Hochschule der Künste Berlin.
Das Komponieren brachte sich Schnebel selbst bei: Er analysierte Partituren, mischte in den 1950er Jahren bei der Darmstädter Avantgarde mit und traf dort Koryphäen wie Luigi Nono, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und John Cage.
Fast nur Problemmusik
„Damals hat man fast nur ,Problemmusik‘ gemacht. Nahezu jedes Konzert mit Neuer Musik geriet zum Skandal.“ Besonders ein Stück von Nono, das – gegen die herrschende Konvention – eine „italienisch“ geschwungene Melodielinie aufwies, habe ihn inspiriert.
Später experimentierte Schnebel mit der menschlichen Stimme, die er – etwa in seinen „Maulwerken“ – als sinnlichen Geräuschmacher einsetzte: Atemzyklen, Silben, Laute, Stimmknarren und -knarzen kombinierte er mit körperlicher Bewegung und wurde so zum Vertreter des experimentellen Musiktheaters.
Damals oft ein Aufruhr
Vieles, was damals für Aufruhr sorgte, habe heute Erfolg. Das läge auch an der Qualität der heutigen Ensembles: „Heutzutage kann man von Musikern fast alles verlangen.“
Die von Andreas Kolb (Neue Musikzeitung) moderierte Gesprächsrunde nahm Fahrt auf, als Reisinger anmerkte, man kreise in der Diskussion sehr um das deutsche Musikleben.
Umso erhellender die Reiseberichte der beiden Minguet-Geiger: Während hierzulande schnell be- und abgeurteilt würde, begegne man ihren Programmen in Hongkong mit riesiger Neugier. In Mazedonien würde im Konzert geraucht, im mongolischen Ulan-Bator alles Neue gierig aufgesogen. „Wir leiden hier an Übersättigung. Die Menschen dort hören wirklich zu.“
Nach einem Konzert in Mumbai mit Mozart, Rihm und Brahms habe eine Journalistin gefragt, welches das moderne Stück gewesen sei – Unvoreingenommenheit scheint schädlichen Erwartungen den Garaus zu machen.
Die Spannung stieg, als sich Konrad aus dem Publikum einschaltete: „Zu Mozarts Zeit waren Opern immer Events, mit Essen, Trinken und Szenenapplaus wie im Jazz. Wenn ich ein Konzert kriege mit toller Landschaft und ein Glas Sekt dazu – nur her damit!“
Fatale deutsche Idee
Die „fatale deutsche Idee der Kunstreligion“ beherrsche uns seit dem 19. Jahrhundert: Konzerthallen als Andachtsräume, Lauschen mit geschlossenen Augen, Konzertroben als kunstpriesterliches Gewand, Künstler als Geistliche. „So lange das noch in uns steckt, werden wir uns weiter empören über Dinge wie ,unangemessenen‘ Zwischenapplaus.“
Sonst vieles, was so oder so ähnlich schon oft diskutiert wurde: Was ist schön, was hässlich? Sollte man das Publikum mit Neuer Musik „zwangsbeglücken“? Was verkauft sich gut? Vielleicht könnte Annette Reisingers Wunsch, Neuer Musik nicht permanent eine Sonderstellung aufzunötigen, sondern sie organisch in „normale“ Programme einzubinden, ein Lösungsansatz sein.
Musik von Dieter Schnebel, der als Komponist und Pfarrer noch immer aktiv ist, gab es beim Mozartlabor nicht zu hören. Zu kurz wäre die Probenzeit nach der Krankmeldung Wolfgang Rihms gewesen, dessen Musik mit einigen Aufführungen vertreten war. Foto: Thomas Obermeier