Er war vor 50 Jahren der erste Nationalpark in Deutschland, offiziell gegründet am 7. Oktober 1970: Im Bayerischen Wald, an der tschechischen Grenze, ist seitdem ein unvergleichbares Stück Wildnis entstanden. Pionierarbeit hat Hans Bibelriether geleistet, fast drei Jahrzehnte lang war er der erste Nationalparkleiter. Der 87-Jährige stammt aus Franken, geprägt hat ihn die Kindheit am und im Steigerwald. Ein Gespräch über die Anfänge, Widerstände und einen dritten Nationalpark – im Steigerwald.
Frage: Herr Bibelriether, Sie wurden 1970 zum ersten Nationalparkleiter in Deutschland ernannt, ohne genau zu wissen, was auf Sie zukommt. Haben Sie sich als Exot gefühlt?
Hans Bibelriether: Ich habe tatsächlich damals nicht genau gewusst, was einen Nationalpark ausmacht. Ich wollte weg aus der Münchner Forstverwaltung und raus in die Natur, in den Wald. So kam ich in den Bayerischen Wald, wo ein Nationalpark entstehen sollte. Und dann habe ich mir in der Schweiz und in anderen Ländern angeschaut, wie Nationalparke aussehen.
Woher kam diese Sehnsucht nach dem Wald?
Bibelriether: Was für mich ein großes Glück war: 1945, nach Kriegsende, gab es ein Jahr lang keinen Schulunterricht. So konnte ich zusammen mit meinem Bruder jeden Tag in den Wald – am Steigerwald bei Ezelheim – und alle möglichen Entdeckungen machen. Das hat mich mehr geprägt als acht Jahre Schule.
Sie leben heute zumindest in Waldnähe. Haben Sie die Sehnsucht immer noch?
Bibelriether: Ja, Sehnsucht nach ursprünglicher, wilder Natur – und nicht nach einem geordneten Agrarbetrieb.
Was ist aus Ihrer Sicht ein Wirtschaftswald wert?
Bibelriether: In unserem dicht besiedelten Land wäre es heute sinnvoller, den Wald naturnah wachsen zu lassen und ihn dann als Wirtschaftswald zu nutzen. Man sollte nicht mehr versuchen, Fichten und Douglasien zu pflanzen. Das wird im Hinblick auf den Klimawandel zu keinem guten Ergebnis führen. In unseren Breitengraden sterben Fichten ab.
Sie halten einen natürlichen Wald für machbar, den man trotzdem bewirtschaftet? Im Nationalpark geschieht dies ja gerade nicht.
Bibelriether: Auch in einem Wirtschaftswald sollte man möglichst viel der Natur überlassen. Wir können selbst als Förster nicht genau beurteilen, welche Bäume wo am besten wachsen. Wenn man es der Natur überlässt, wachsen die Bäume an der richtigen Stelle.
Und es entsteht ein anderer Wald, als er von Menschenhand gemacht wäre.
Bibelriether: Es entsteht vor allem ein ungleichaltriger Wald mit alten neben jungen Bäumen. So war das ursprünglich. Erst unsere Forstwirtschaft hat den Altersklassenwald, Wälder mit gleichaltrigen Baumbeständen, geschaffen. Und der ist sehr empfindlich gegen Windwurf, Schneebruch oder Schädlinge.
Das heißt, der Naturwald ist robuster gegen Einflüsse von außen?
Bibelriether: Natürlich. Der Naturwald ist stabiler, weil er sich an die Klimaverhältnisse der Region anpasst.
Wie sehr leiden Sie, wenn Sie die extremen Dürreschäden der Wälder sehen?
Bibelriether: Ich habe da keine Angst. Die Natur hilft sich selbst, im Nationalpark sehen wir das. Es wird neuer Wald entstehen – vielleicht einer, der früher nur im Mittelmeerraum gewachsen wäre. Wenn es aber mit der Klimaveränderung so schnell weitergeht, wird es jeder Wald irgendwann schwer haben.
Bleiben Sie bei Ihrer Einschätzung, dass der Borkenkämpfer nicht aktiv bekämpft werden muss?
Bibelriether: Ja. Der Käfer lässt nur die Fichten verschwinden, die sowieso keine Zukunft haben. Und mit ihnen verschwindet auch der Borkenkäfer wieder. Dürre Bäume gehören zu einem Waldnationalpark, sie sind Teil der natürlichen Entwicklung.
Mit dem Nationalpark Bayerischer Wald ist ein Stück ursprüngliche Natur entstanden. Einfach war das zu Beginn nicht.
Bibelriether: Das Problem war, dass die Forstverwaltung den Nationalpark nicht wollte. Seine Gründung wurde politisch entschieden, voran vom bayerischen Landwirtschaftsminister Hans Eisenmann. Vom Chef der Forstverwaltung wurde ich in den Dienst eingeführt mit dem Satz: „Jetzt tun wir drei Jahre so als ob – dann erledigt sich das von selbst.“ Aber wir haben die Einrichtung des Nationalparks ernst genommen.
Sie meinen das Trio aus Ihnen und den beiden Mitstreitern Hartmut Strunz und Georg Sperber, dem späteren Forstamtsleiter im Steigerwald?
Bibelriether: Ja, wir drei Franken im Bayerischen Wald….
Woher kamen die Widerstände gegen die Nationalparkgründung hauptsächlich?
Bibelriether: Von der Forstverwaltung, aber auch von Förstern und Forstamtsleitern vor Ort im Bayerischen Wald. Sie hatten kein Interesse am Naturschutz im Wald und wollten Holz lieber nutzen und verkaufen.
Und der Konflikt mit den Jägern?
Bibelriether: Als wir in den Bayerischen Wald gekommen sind, haben wir einen sehr hohen Bestand an Hirschen und Rehen festgestellt. Die Weißtanne als wichtige natürliche Baumart konnte gar nicht mehr hochwachsen, weil sie abgefressen wurde. Deshalb haben wir gefordert, den Bestand von Hirschen und Rehen zu reduzieren – was uns Ärger mit den Jägern einbrachte. Sie waren an einer großen Zahl von jagdbaren Tieren interessiert und führten damals noch sogenannte Trophäenjagden durch.
Und wie hat die Bevölkerung auf die Nationalparkgründung reagiert?
Bibelriether: Da gab es Gegner und Befürworter gleichermaßen.
Sie wurden auch bedroht?
Bibelriether: Ja, es gab Drohbriefe und drohende Telefonanrufe… Vor allem ab dem Zeitpunkt, als wir die menschlichen Eingriffe in den Wald gestoppt haben. Da fingen die Auseinandersetzungen richtig an.
Wie sind Sie mit den Drohungen umgegangen?
Bibelriether: Ich habe sie ohne Angst hingenommen. Geholfen hat mir mein christlicher Glaube: Ich habe es als eine von Gott gegebene Aufgabe verstanden, den Nationalpark aufzubauen. Es ging darum, die Schöpfung, die ursprüngliche Natur zu bewahren. Ohne diese Kraft durch den Glauben hätten es meine Familie und ich wahrscheinlich nicht durchgestanden.
Die „Wildnis“ war damals auch noch sehr negativ besetzt.
Bibelriether: Absolut. In ganz Deutschland wurde Wildnis damals abgelehnt. Heute, 50 Jahre später, wünscht sich die Mehrzahl der Bevölkerung wieder großflächige wilde, ursprüngliche Natur. Deshalb finden Nationalparke heute in der Bevölkerung eine große Unterstützung.
War der Bayerische Wald Vorbild für spätere Nationalparke?
Bibelriether: Wo in Deutschland weitere Nationalparke gegründet wurden, gerade auch nach der Wiedervereinigung, hat man sich bei uns im Bayerischen Wald über Ziele und Inhalt von Nationalparken informiert.
Nach wieviel Jahren war der neue „wilde“ Wald zu erkennen?
Bibelriether: Es ging schrittweise. Schon in den ersten Jahren konnte man sehen, was nachwächst. Dann kam der Sturm 1983: Wir haben durchgesetzt, dass die Bäume liegenbleiben – was nur dank der Unterstützung von Landwirtschaftsminister Eisenmann gelungen ist. Und von da an konnte man beobachten, wie die Natur ihren ganz eigenen Wald entstehen lässt. Im Übrigen: Ein Fünftel der Tierarten, die im Wald leben, sind vom Totholz abhängig.
Ist das eine zentrale Erkenntnis? Dass es für ein solches Projekt starke politische Fürsprecher braucht?
Bibelriether: Unbedingt. Das waren im Bayerischen Wald Landespolitiker wie Hans Eisenmann oder örtliche Vertreter wie der damalige Landrat Karl Bayer. Ein Glücksfall war auch der spätere CSU-Fraktionschef Alois Glück. Er war ebenfalls aus christlicher Motivation heraus ein glühender Verfechter des Nationalparks. Dagegen stand Franz-Josef Strauß auf Seiten der Jäger – er ließ uns aber gewähren.
War der Nationalpark in den 50 Jahren ernsthaft in Gefahr?
Bibelriether: Es gab öfter mal Bewegungen und Forderungen, ihn abzuschaffen. Hauptsächlich aus der Forstverwaltung. Als es 1997 um die Erweiterung ging, wurde der Nationalpark grundsätzlich in Frage gestellt. Doch die politischen Unterstützer wie Eisenmann und Glück waren stärker als die Gegner.
Besteht die Gefahr auch noch heute?
Bibelriether: Nein, das Meinungsbild hat sich positiv verändert. Zwei Drittel der Deutschen wollen weitere Nationalparke.
Brauchen wir einen dritten Nationalpark in Bayern? Wo sollte er entstehen?
Bibelriether: Auf jeden Fall, sinnvollerweise auch einen vierten und fünften. Am dringlichsten wäre ein Nationalpark im Steigerwald. Das ist derzeit ein großer Naturpark, in dem aber schon heute 7000 Hektar aus der Bewirtschaftung genommen sind. Deshalb sollte man zügig einen Nationalpark Steigerwald ausweisen.
Und andere Standorte in Bayern, wie die Rhön oder der Spessart?
Bibelriether: Die kämen auch in Frage. Zu prüfen ist, ob man über eine Fläche von mindestens 5000 Hektar in Staatsbesitz verfügt wie im Spessart – oder ob man solche Größen durch Zukauf schaffen kann, zum Beispiel in der Rhön, damit man ein zusammenhängendes Gebiet als Nationalpark ausweisen kann.
Welche Rahmenbedingungen bräuchte es, damit ein dritter Nationalpark gelingt?
Bibelriether: Entscheidend ist eine positive öffentliche Meinung und entsprechender Druck. Die Bevölkerung muss einen Nationalpark wollen und von der Politik einfordern. Hier können Fördervereine, wie es für den Steigerwald schon einen gibt, einen wichtigen Beitrag leisten.
Danke Hans Bibelriether!
Drei Franken im Bayerwald. Das gefällt mir!
Auf bald im Nationalpark Steigerwald!