In ihrem Studium ist Melanie Volkart abends oft aus der Würzburger Uni gekrabbelt. Anders ging es nicht mehr. Sie wartete, bis alle weg waren und die Lichter ausgingen. Melanie Volkart wollte weder Mitleid noch Spott. Erst wenn sie sich unbeobachtet fühlte, kroch sie auf allen vieren aus dem Gebäude über die Wiese Richtung Bushaltestelle. Die Frau aus Königsbrunn (Lkr. Augsburg) litt unter starken Muskelkrämpfen. Hände, Arme und Beine gehorchten ihr dann nicht mehr. Die Symptome verschlimmerten sich von Jahr zu Jahr. Wie bei ihrer Mutter. Die Ärzte stellten viele Diagnosen. Alle waren falsch.
Melanie Volkart nimmt sich Zeit für das Gespräch. Die 40-Jährige trägt Jeans, ein graues Sweatshirt, die blonden Haare hat sie zum Dutt hochgedreht. Sie lacht immer wieder, während sie erzählt, wirkt unbeschwert. Gesundheitlich geht es ihr inzwischen auch gut. Innerlich aber kämpft sie um Normalität. Melanie Volkart kommt aus einer ganz normalen Familie – der Vater ist Lehrer, die Mutter Zahntechnikerin, sie hat einen Bruder. Alles normal – bis auf die seltsamen Symptome bei Mutter und Tochter. Beide können nicht richtig gehen. „Bei mir sah es als Kind aus, als humpelte ich“, erinnert sie sich. Plötzliche Muskelkrämpfe in Händen, Armen und Beinen kommen hinzu.
Spastische Krämpfe, heißt es meist
Mutter und Tochter klappern Ärzte und Kliniken ab, gehen zu Heilpraktikern und Physiotherapeuten. Spastische Krämpfe, heißt es meist. Bei beiden Frauen? Gleichzeitig? Fakt ist: Helfen kann ihnen niemand.
Markus Naumann, Chefarzt der Neurologie am Klinikum Augsburg, ist schließlich der erste Mediziner, der an den Diagnosen vieler Jahre zweifelt. Die Art der Verkrampfung bei der Mutter passt für ihn nicht zu Spastiken, sondern eher zu einer anderen Bewegungsstörung: einer Dystonie. Doch diese Erkenntnis ist damals für die Familie noch ganz weit weg.
Dort bleibt die mysteriöse Erkrankung fernab der Arztbesuche ein Tabu-Thema. Als ob das Totschweigen die Anfälle verschwinden ließe. „Meine Mutter war eine Kämpferin. Sie ließ sich nie hängen, war streng mit sich“, sagt Melanie Volkart. Den Kampf um Normalität verlangt die Mutter auch der Tochter ab. „Als Kind vermied ich es, vor ihr zu laufen, weil sie ständig meinen Gang korrigierte.“ Die Mutter erträgt es offenbar nicht, dass die Tochter ihr Schicksal teilt. Trotz gegenseitiger Liebe ist das Verhältnis schwierig. Auch von Melanies Seite aus. „Ihr Zustand führte mir ständig vor Augen, wie schlecht es mir selbst einmal gehen würde.“
Im Gymnasium gab es mehr Zeit für Klausuren
Selbst ihr geliebter Vater spricht nicht über die Erkrankung. Melanie Volkart überlegt kurz. „Ich glaube er wollte diese Sprachlosigkeit ausgleichen, indem er alles für mich tat.“ So kümmert er sich darum, dass seine Tochter im Gymnasium einen Nachteilsausgleich bekommt. Melanie wird fortan mehr Zeit in den Klausuren zugestanden. Denn ihr Gesundheitszustand wirkt sich auch auf die schulischen Leistungen aus.
Weil die Hände immer öfter krampfen, kann Melanie im Unterricht schwer mitschreiben. Meist endet es in Geschmier. Bis abends arbeitet sie daheim nach. Oft dauert das sehr lange. Denn im Laufe des Tages werden bei ihr die Symptome heftiger, wie auch bei der Mutter.
Genau dieser Umstand wird den Augsburger Neurologieprofessor mehr als zehn Jahre später stutzig machen. „Als ich die Bewegungsabläufe der Mutter sah, war mir sofort klar, dass es sich um eine organische Störung handelt“, sagt Naumann. Die Tatsache, dass es der Patientin vormittags immer besser geht als am Abend, lassen ihn an eine spezielle Form der Dystonie denken. Naumann vermutet das Segawa-Syndrom. Bisher wurde er erst einmal in seiner Berufslaufbahn mit dieser extrem seltenen Erbkrankheit konfrontiert. Bewegungsstörungen sind sein Spezialgebiet. „Über Dystonien habe ich habilitiert.“
Mobbing gehört zu den Erfahrungen ihrer Jugend
Obwohl es Melanie in ihrer Schulzeit so schlecht geht, will sie unbedingt das Abitur schaffen. In der Kollegstufe durchlebt sie zwei Höllenjahre. Es sind ihre schlimmsten. „Mit dem Nachteilsausgleich in der Kollegstufe begann das Mobbing“, fährt sie fort. Die Mitschülerinnen neiden ihr den Zeitbonus in den Prüfungen. Melanie wird nicht mehr zu Geburtstagsfeiern eingeladen. Bei einem mehrtägigen Klassenausflug auf einem Schiff quetschen sich die Mädchen lieber zu viert in eine Kabine, als sich mit ihr eine zu teilen. Sie wird zur Einzelgängerin. Zur Abifeier geht sie nicht. Ihr Zeugnis lässt sie sich zuschicken.
Viele raten ihr vom Studium ab. Aber Melanie Volkart setzt sogar noch einen drauf. Sie verlässt das Elternhaus, will eigenständig leben, beginnt in Würzburg ein Lehramtsstudium. Um Stresssituationen wie Referate ohne Zitter- und Krampfanfälle zu schaffen, beginnt Melanie, davor Alkohol zu trinken. Das beruhigt ihren Körper. Mit der Dosierung tut sie sich manchmal schwer. Zweimal bricht sie zusammen, kommt ins Krankenhaus. „Niemand vermutete, dass ich eine Alkoholvergiftung haben könnte.“
Arztbesuche lässt sie irgendwann bleiben
Ihr ganzes Leben hat Melanie bis dahin versucht, ihre Krankheit zu überspielen. Arztbesuche lässt sie irgendwann bleiben. Sie bringen sie nicht weiter. „Ich strukturierte meinen Alltag von vorne bis hinten durch.“ Das nimmt zu der Zeit bisweilen tragisch-komische Züge an – wie eben das Herauskrabbeln aus der Uni. Manchmal steht sie an der Haltestelle und kann nicht in den Bus steigen. Dabei ist er nur einen Meter von ihr entfernt. Ihre Beinmuskeln versagen. Sie hält sich irgendwo fest, bis es vorbei ist. Dann trifft sie an der Uni auf ihre große Liebe.
Stefan (Name geändert) ist ein besonnener junger Mann. Er fackelt nicht lange, wenn die Krämpfe sie schütteln, nimmt er sie huckepack, ist für sie da. „Ich habe ihn unheimlich geliebt. Aber das mit uns klappte nur in meinem Ausnahmezustand“, sagt sie rückblickend. Die beiden heiraten, wechseln an die Uni nach München. Da ist Melanies Vater bereits tot. Er starb im Jahr 2000 im Alter von 49 Jahren völlig überraschend. Das Herz. Für Melanie Volkart ist das ein schwerer Schlag. Den zweiten muss sie im April 2009 verkraften. Doch kurz zuvor passiert das kleine Wunder im Augsburger Klinikum.
Die Mutter im Rollstuhl, die Tochter am Rollator
Nach dem Tod des Vaters verschlechtert sich der Gesundheitszustand ihrer Mutter dramatisch. Sie sitzt fast nur noch im Rollstuhl. Die Mutter wird abhängig von Tavor, einem starken Beruhigungsmittel. Irgendwann lässt sie sich ins Bezirkskrankenhaus einweisen. Neben dem Entzug rät man ihr dort, sich wegen der Krämpfe in der Neurologie am benachbarten Klinikum untersuchen zu lassen.
Die Mutter hat darauf keine Lust mehr. Zu oft schon hat sie Ärzte erfolglos abgeklappert. „Bitte Mama, versuch es ein letztes Mal“, redet Melanie Volkart ihr zu, die zu diesem Zeitpunkt schon selbst am Rollator gehen muss. Als die Tochter ihre Mutter bald in der Neurologie besucht, traut sie ihren Augen kaum. Auf dem Stationsflur kommt ihr die Mutter entgegengelaufen. Ganz normal, völlig unverkrampft. „Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich meine Mama so sah.“ Es sollte das letzte Mal sein. Aber die dramatische Wendung kann sie in diesem Augenblick nicht erahnen. „Meine Mama und ich weinten. Wir lagen uns in den Armen.“
Eine einzige Tablette am Tag - und alles wird anders
Hinter dem vermeintlichen Wunder steckt eine richtige Diagnose. Eine Tablette sollte fortan reichen, und die 57-Jährige würde wieder normal gehen. Eine einzige verdammte Tablette am Tag, erhältlich auf Rezept in jeder Apotheke. Markus Naumann, Chefarzt der Neurologie und klinischen Neurophysiologie, weiß, dass das Segawa-Syndrom mit dem Medikament L-Dopa behandelbar ist. Auch Parkinson-Patienten nehmen es. Naumann ist gespannt, ob die Arznei bei der Mutter anschlägt. „Wenn es hilft, dann sofort.“ Es wirkt.
Der Arzt bestellt Melanie Volkart ins Klinikum und gelangt auch bei ihr zu der Diagnose. „Er fragte mich, ob ich bereit für ein neues Leben sei“, erzählt Melanie Volkart. Zu dem Zeitpunkt steckt sie im Referendariat. Sie nimmt die Tabletten. Die Symptome verschwinden. Melanie ruft ihre Mutter an, die schon wieder daheim ist. Aufgeregt erzählt sie ihr, dass das Mittel auch bei ihr hilft. Alles fühle sich auf einmal so leicht an.
Es ist das letzte Gespräch zwischen ihnen. In der Nacht nimmt sich die Mutter das Leben. „Sie kam mit diesem neuen, unerwarteten Leben ohne Behinderung nicht zurecht“, glaubt Melanie Volkart. „Klar hadere ich mit ihr, warum sie das getan hat. Endlich hätten wir Dinge unternehmen können, wie es Mütter mit Töchtern eben machen. Zum Shoppen gehen oder so.“ Doch sie habe gelernt, die Entscheidung der Mutter zu akzeptieren.
Ein Therapie-Erfolg bedeutet auch einen innerlichen Prozess
Auch für sie selbst ändert sich alles. Melanie Volkart, damals Anfang 30, kauft sich Turnschuhe und fängt an zu joggen. „Für mich ist das immer noch wie fliegen“, sagt sie. Sie geht feiern, tanzen, lernt Snowboarden, trägt hohe Schuhe, belegt einen Highheel-Kurs. Volkart ist so hungrig auf das Leben, dass sie gar nicht weiß, was sie zuerst machen soll. Stefan kann bei diesem Tempo irgendwann nicht mehr mithalten. Die Ehe zerbricht.
Professor Naumann sagt, man dürfe die Anpassung an ein völlig neues Leben nicht unterschätzen. „Mit so einem Therapie-Erfolg wird ein langer innerlicher Prozess in Gang gesetzt. Es dauert viele Jahre, bis er psychisch kompensiert ist.“ Melanie Volkart erfüllt sich ihren Traum. Sie wird Lehrerin. In München unterrichtet sie verhaltensauffällige Kinder. Diesen Kampf hat die 40-Jährige geschafft.
Die Single-Frau lebt jetzt nur für ihren Beruf, arbeitet teilweise bis spät in die Nacht, schläft wenig. Oft ist die 40-Jährige nur glücklich, wenn sie viel arbeitet. „Ich weiß noch nicht, wer ich bin und wo im Leben mein Platz ist“, sagt sie. Melanie Volkart weiß aber, sie muss weiter für sich kämpfen.
Auch der Sender NDR berichtete vor fast einem Jahr über den Fall, bei Youtube abrufbar unter „Abenteuer Diagnose: Segawa-Syndrom“.