Als Julian Wendel im Kleinkindalter war, merkten seine Eltern, dass etwas nicht stimmt. Dem Jungen war es nicht möglich, zu krabbeln oder laufen zu lernen. Ärzte stellten fest, dass der Junge an einer schweren Form der Spinalen Muskelatrophie leidet. Weshalb Julian fortan lebenslang auf Pflege und Unterstützung angewiesen sein würde. Sondereinrichtungen lehnten seine Eltern allerdings von Anfang an ab. Heute bewältigt Julian Wendel seinen Alltag mit sieben persönlichen Assistenten.
Vor 32 Jahren, als Julian Wendel zur Welt kam, war es völlig normal, dass Kinder mit Handicap einen Spezialkindergarten besuchten, in einer Sonderschule unterrichtet wurden und als Erwachsene im Heim lebten. Wendels Eltern wollten dies jedoch nicht. Sie gründeten auf dem Heuchelhof einen integrativen Kindergarten, der von Julian und seinem zwei Jahre jüngeren, ebenfalls muskelkranken Bruder Christoph, drei weiteren Kindern mit Handicap sowie zehn nicht-behinderten Kindern besucht wurde.
Reguläre Grundschule
Auch sollte Julian auf eine reguläre Grundschule gehen. Einen Rechtsanspruch darauf gab es allerdings noch nicht, das Wort „Inklusion“ war seinerzeit völlig unbekannt. „Ich musste zu einem Psychologen gehen, der mir bestätigte, dass ich die Intelligenz für die Grundschule besaß“, erinnert sich Wendel. Auch hatte der Sechsjährige eine halbjährige Probezeit zu bestehen.Wendels Mutter kam in dieser Zeit vier Mal täglich in die Schule, um ihr Kind sieben Treppenstufen vor dem Schulgebäude hoch- und herunterzutragen. „Sie brachte mich morgens hin, kam in der ersten und zweiten Pause und holte mich nach Schulende ab“, erinnert sich Rollstuhlfahrer. Julian. Erst, als der Junge die Probezeit mit Bravour geschafft hatte, investierte die Schule in einen Treppenlifter.
Hilfe beim Anziehen
Unterstützt wurden seine Eltern ab diesem Zeitpunkt erstmals von Mitarbeitern des Familienentlastenden Dienstes (FED) der Lebenshilfe. „Die FED-Mitarbeiter halfen zum Beispiel, mich und meinen Bruder morgens anzuziehen“, erzählt Julian. Assistenz in der Schule, wie sie heute behinderte Kinder durch Schulbegleiter bekommen, hielt damals allerdings noch niemand für notwendig. Er selbst vermisste dies aber auch nicht: „Ich war einfach ganz normal in der Klasse mit dabei.“ Kleine Hilfsdienste wurden selbstverständlich von den Klassenkameraden übernommen.
Mit einem Notendurchschnitt von 1,0 ging er von der Grundschule ab und aufs Deutschhaus-Gymnasium. Auch in dieser Phase verzichteten die Eltern also auf eine Sondereinrichtung: „Sie mussten sich jedoch abermals dafür einsetzen, dass einige Umbauten an der Schule vorgenommen wurden.“ Nach dem Abitur absolvierte Julian Wendel an der Uni Würzburg ein Psychologiestudium.
Begleitet wurden er und sein Bruder Christoph in all den Jahren von Assistenten. Die kamen zunächst von der Lebenshilfe, später über die Würzburger Organisation Arche. 2011 beschlossen die Brüder, selbst Assistenten anzustellen. Heute werden Julian und Christoph Wendel von sieben Assistenten gepflegt und im Alltag begleitet.
Simon Klingel ist einer von ihnen. Der 24-Jährige assistiert Julian und Christoph Wendel neben seinem Studium der Politik- und Sozialwissenschaften. In Berührung mit muskelkranken Menschen kam der junge Mann über ein Freiwilliges soziales Jahr in einem Behindertenzentrum in Heidelberg. Nach dem FSJ beschloss er, persönlicher Assistent eines behinderten Mannes zu werden.
Rund um die Uhr im Einsatz
„Ich war meist am Wochenende rund um die Uhr im Einsatz“, erzählt Klingel. Das pflegerische Wissen für seinen neuen Job wurde ihm in einer Art Crashkurs von einer Pflegekraft des Heidelberger Zentrums vermittelt. Rasch war Simon Klingel klar, wie er den muskelkranken Mann handhaben musste. Dabei schätzte er es, dass er sich genau so viel Zeit lassen konnte, wie er und der Mann benötigten: „Das ist nicht wie bei einem ambulanten Pflegedienst, wo man die Pflege morgens in 25 Minuten absolviert haben muss.“
Als Simon Klingel zu Julian und Christoph Wendel kam, zeigten ihm die Eltern, bei denen die beiden Brüder noch leben, was bei der Körperpflege ihrer Söhne zu beachten ist. Inzwischen sind Simon Klingel und Julian Wendel ein eingespieltes Team. Ohne langwierige Erklärungen weiß der Assistent, was er zu tun hat.
Hilfe ist ständig nötig, sagt Julian. „Denn ich kann nicht einmal eine Hand heben, um mir die Nase zu putzen.“ Nur am Computer kommt er meist gut alleine zurecht: „Außer, wenn die Hand vom Joystick rutscht.“ Dann ruft er Simon Klingel oder einen anderen Assistenten, der Dienst hat.
Als Schöffe beim Würzburger Landgericht
In einem Heim zu leben, sagt Julian Wendel, wäre für ihn unvorstellbar. Dann könnte er vor allen Dingen nicht die zahlreichen Ehrenämter erfüllen, zu denen er sich bereit erklärt hat. Er engagiert sich für die Elektrorollstuhl-Hockeymannschaft „Ballbusters“, ist im Deutschen Rollstuhlsportverband, bei der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) und im Behindertenbeirat der Stadt Würzburg aktiv. Außerdem fugiert er als Schöffe beim Würzburger Landgericht. Das bedeutet unterm Strich einen Halbtagsjob.
Was angesichts seiner schweren Erkrankung für Wendel eine ziemliche Herausforderung darstellt. Zu stemmen ist sie nur mit Hilfe der Assistenten, die ihn überallhin begleiten. Die für ihn Papiere ordnen. Dokumentationen erstellen. Oder, wenn?s zum Hockey geht, die Sporttasche packen. Es ist der Alltag eines Menschen mit Behinderung, der froh ist, zuhause leben zu können.
Inklusion in Schulen
Inklusion ist eines der Topthemen unserer Zeit, dennoch tun sich viele Schulen noch schwer mit der Umsetzung. So stoßen Eltern von Kindern mit einer motorischen Behinderung bei ihrer Suche nach einer barrierefreien Regelschule schnell an ihre Grenzen. Wie wichtig diese Barrierefreiheit ist, zeigt das Beispiel von Julian Wendel, dessen Eltern für einen Schulbesuch in einer Regelschule noch kämpfen mussten. Heute gibt es verschiedene Modelle und eine gute Vernetzung, die Schulämter bieten eine spezielle Beratung an. Die Inklusionsmöglichkeiten und deren Umsetzung ist auch Thema einer Broschüre des Bayerischen Kultusministeriums.
In Bayern unterrichten fast 30 Prozent der allgemeinen Schulen und rund 60 Prozent der Förderschulen derzeit eine oder mehrere Schülerinnen oder Schüler mit einer körperlichen Behinderung. Einen Aufzug haben rund 40 Prozent aller Schulen; Rampen kommen an 27 Prozent der Schulen zum Einsatz. Rund 60 Prozent bejahen die Zugänglichkeit hinsichtlich des Eingangsbereiches, rund 30 Prozent auch hinsichtlich der anderen Stockwerke. Die Frage, ob der Unterricht in den jeweiligen Jahrgangsstufen in allen Fächern barrierefrei besucht werden kann, verneinen rund 45 Prozent aller Schulen. Fast 30 Prozent bejahen diese Frage hingegen für Schülerinnen und Schüler mit einem Elektrorollstuhl. Rund 60 Prozent der Schulen geben an, dass sie über eine behindertengerechte Toilette verfügen. Mel