Wie cool ist das denn? Schüler dürfen selbst entscheiden, ob sie zur ersten oder zur zweiten Stunde in die Schule gehen wollen. Grund: Schlafforscher sagen, die erste Stunde ist aus Gründen der Müdikeit für die Katz. Warum auch Professor Andreas Dörpinghaus, Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Bildungswissenschaft der Uni Würzburg, diesen Vorstoß gut findet.
Frage: Kann man aus pädagogischer Sicht eine Gleitzeit für Schüler empfehlen?
Andreas Dörpinghaus: Man kann in mehrfacher Hinsicht und auf unterschiedlichen Ebenen die sogenannte Gleitzeit für Schülerinnen und Schüler empfehlen, wenn man bereit ist, auch verändert über Schule nachzudenken. Der Begriff der Gleitzeit erinnert aber zugleich an ein Arbeitszeitmodell, was mindestens keine glückliche Formulierung sein dürfte. Zunächst hat die Chronobiologie schon lange auf die bedenkliche Festlegung von zu frühen Lernzeiten und die sehr verschiedenen Chronotypen hingewiesen. Allerdings sind solche Überlegungen ohne pädagogische Anbindung lediglich dem Gedanken der Leistungsoptimierung verpflichtet.
Was meinen Sie genau mit pädagogischer Anbindung?
Dörpinghaus:Pädagogische Überlegungen sollten heute schon etwas mehr leisten können, als Arbeitszeitmodelle und Leistungsoptimierungen mit Blick auf Lernzeiten auszuprobieren. Unsere Schule ist noch heute dem Gedanken der Disziplinargesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts und dem Leistungsdenken des Bildungsbürgertums verpflichtet. Im Grunde orientiert sich eine vermeintlich moderne Gesellschaft auf einem ihrer zentralsten Felder an völlig veralteten Paradigmen.
Wesentlich für diese Disziplinargesellschaft war die Zeitdisziplin. Wenn wir heute also über neue Zeitmuster in Schulen nachdenken, können wir das nicht tun, ohne bereit zu sein, zugleich veraltete Prinzipien in Frage zu stellen.
Was setzt das voraus?
Dörpinghaus: Eine Schule muss sich nicht an Disziplin, Kontrolle und Leistung – die Kinder im Übrigen nicht glücklicher macht – orientieren, sondern sie kann es auch an Interesse, Neugier, Freiheit, sozialer Verantwortung und Bildung tun. Nur dazu erfordert es Mut und Vertrauen in die nachwachsende Generation. Beides ist derzeit rar gesät. So mag die Diskussion um Zeit der erste und wichtigste Schritt in die richtige Richtung sein. Dennoch sollte klar sein, dass eine sogenannte Gleitzeit nicht die Disziplinierung über die Zeit ablöst. Dazu bedürfte es eines anderen, pädagogisch-reflexiven Umgang mit Zeit.
Überfordert man Schüler mit so viel Verantwortung – oder ist flexible Lernzeit in unserem Bildungssystem längst überfällig?
Dörpinghaus: Verantwortung lernt man nur, wenn man Verantwortung übernimmt. Wichtig ist, dass die Übernahme pädagogisch begleitet und ein kluges, abwägendes Urteil gefördert wird. Die flexible Lernzeit – ich würde lieber von Bildungszeit sprechen, denn auch Maschinen können lernen – ist sicherlich sehr gut, aber sie fordert eben auch ein gemeinsames pädagogisches Nachdenken über Zeit selbst. Es ist ein wichtiger Aspekt moderner Bildung, die Zeitreflexion und die Lebenszeit selbst zu ihrem Gegenstand zu machen. Ohne Zweifel ist diese Verantwortung nicht für alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen sofort vorstellbar, auch werden Schulen damit überfordert, wenn dieses Bildungszeitprojekt nicht pädagogisch-reflexiv begleitet wird. Diese Verantwortung für Zeit ist aber gerade eine pädagogisch ambitionierte Zielvorstellung, die für demokratische Gesellschaften unabdingbar sein sollte.
Welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, um eine solche Gleitzeit großflächig bundesweit einzuführen?
Dörpinghaus: Wir sollten zunächst einmal an Versuchsschulen sehen, wie weit wir für eine veränderte Schullandschaft sind, zumal politische Instanzen nur bedingt Kontrollverlust mögen. Auch lässt sich natürlich von reformpädagogisch orientierten Schulen lernen.
Warum reagieren so viele Eltern und Erwachsene so allergisch auf jedwede mögliche Änderung im Bildungsapparat?
Dörpinghaus: Das sehe ich nicht uneingeschränkt so. Ich glaube, dass viele Eltern dankbar wären für eine moderne Schule, die ihre Kinder nicht notwendig unglücklicher macht. Allerdings können sich selbst Eltern auch nur wenig vom Leistungsdruck des Bildungssystems lösen und stehen stets in Gefahr hier mehr die traditionellen Strukturen zu reproduzieren als ihr ein Korrektiv zu sein. Kinder stehen enorm unter Leistungsdruck, der selbst Symbol eines sehr komplexen Gefüges ist, in dem Zeit eine zentrale Rolle spielt.
Können Sie Argumente, wie 'Wir packen die Kinder unnötig in Watte, wenn sie jetzt auch noch später zur Schule gehen dürfen' nachvollziehen?
Dörpinghaus: Das sind für mich keine Argumente.