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Würzburg/Vent
Mit Bohrmaschine, Haken und Schweiß die ersten am Fels
Susanne Schmitt
 |  aktualisiert: 27.04.2023 02:30 Uhr

Sie stehen ganz oben. Der Puls pocht, die Muskeln sind müde. Unter ihnen geht es senkrecht in die Tiefe, grau-braunes Gestein, in den Rissen klammern sich einzelne Grasbüschel fest. Hundert Meter fällt die Südostwand vom Gipfel des Schwarzkögele ab. Ringsum ragen schneebegipfelte Berge auf, vermitteln den Eindruck, noch viel höher zu stehen. Roland Zschorn und Jürgen Dobler sind die ersten, die den Weg durch diese Felswand geklettert sind. Die ersten, die diese Route mit Bohrmaschine, Mörtel und Haken erschlossen haben. „Das Gefühl ist irre“, sagt Dobler.

Für den 56-jährigen Würzburger war die Erstbegehung einer alpinen Tour ein Jugendtraum. Einer, den er früher beim Lesen von Abenteuern der großen Bergsteiger wie Reinhold Messner oder der Huberbrüder gehegt hat – der aber nicht leicht zu erfüllen ist. Dobler und Zschorn gehören zur DAV-Sektion Würzburg. Beide klettern seit Jahrzehnten, sind erfahrene Bergsteiger und Ausbildungsleiter im Alpenverein. Eine eigene Route erschlossen hatten sie jedoch nicht. Bis zu diesem Wochenende Mitte September.

Mit dem Auto haben sich die beiden Unterfranken auf den Weg nach Vent in Tirol gemacht. Bohrmaschine, Akkus, Haken, Zweikomponentenmörtel und die Kletterausrüstung stapeln sich im Wagen. Noch nie hingen beide Männer bisher gemeinsam an einem Seil. Ein Abenteuer, das mit schweißtreibenden Aufstiegen beginnt: drei Stunden zunächst vom Gebirgsdorf zur Vernagthütte, am nächsten Morgen auf den Gipfel des Schwarzkögele. Dort, an der Kante der Südostwand, soll die Route der Würzburger entstehen.

Es entstehen winzige Bohrlöcher in einer riesigen Wand.

Aufgefallen war die Felswand Zschorn bereits 2015. Rund eineinhalb Stunden Fußmarsch ist sie von der Hütte, die die Würzburger Sektion in den Ötztaler Alpen betreibt, entfernt. Hier wollte der Ausbildungsreferent eine alpine Kletterroute in einem relativ leichten Schwierigkeitsgrad schaffen, die für Kurse geeignet ist.

Lokale Bergführer, Alpenverein und Hüttenwirt unterstützten die Idee und so suchte Zschorn nach einem Partner, „der Erfahrung im Bohren und setzen von Haken hat“. Dobler, von Beruf Bauschlosser, hat vor zwei Jahren bereits den Lenzsteig bei Karlstadt (Lkr. Main-Spessart) mit saniert. Er kann mit der Bohrmaschine umgehen. Und er sagte zu.

Nun steht der 56-Jährige auf dem Gipfel des Schwarzkögele und treibt den Bohrer senkrecht ins Gestein. Am Ausstieg ihrer geplanten Route beginnen Zschorn und Dobler mit der Arbeit, hier bohren sie die ersten Löcher in den Fels. Winzige Punkte in einer riesigen Wand. Sorgfältig bürstet und bläst Dobler die Vertiefungen sauber und füllt mit einer Art Klebepistole Mörtel ein. Dann drückt er zwei Haken in die Masse, verbindet beide mit einer Kette. So entsteht der höchste sogenannte Standplatz der Route, an dem Kletterer später ihre Expressschlingen und ihr Seil befestigen und sich Sichern können.

Von oben bewegen sich die Franken in die Felswand hinein. Langsam lässt Zschorn seinen Partner hinunter, stoppt nach gut 25 Metern und Dobler setzt die Bohrmaschine erneut an, für den zweiten Standplatz. Dann klettert der 56-Jährige wieder hinauf und markiert, wo er Haken zur Absicherung setzen möchte. Rauf, runter. Bohren, Bürsten, Kleben, weiterklettern. Stück für Stück kämpft sich Dobler vorwärts. Bepackt mit schwerem Material und mit dicken Bergschuhen an den Füßen ist er bald nassgeschwitzt. Die Arme und Finger schmerzen, trotz Handschuhen und Übung.

Die Anstrengung hat Spuren hinterlassen. Noch eine Woche nach der Erstbegehung ist Doblers Ferse blutig gescheuert. Auch wenn die Route nur mit dem Schwierigkeitsgrad IV+ und damit relativ leicht bewertet ist – sie im unberührten Fels einzurichten war „harte Arbeit“, sagt Dobler.

Am ersten Tag schaffen es die beiden Männer bis zum dritten Standplatz, also 75 Meter tief. Dann ist nach neun Stunden in der Wand der Akku der Bohrmaschine leer und der Feierabend erzwungen. Seil und Bohrer lassen Zschorn und Dobler hängen, am nächsten Tag geht es weiter.

Bergsport sollte im Einklang mit der Natur stehen.

Zahlen, wie viele Routen so jedes Jahr im Alpenraum neu erschlossen werden, gibt es keine, sagt DAV-Sprecher Thomas Bucher aus München. Aber „es sind sehr sehr viele“. Vor allem in Klettergärten (meist nur eine Seillänge und besser abgesichert), aber auch alpine Touren, bei denen das Seil an den Standplätzen nachgeholt wird und die durch die großen Felswände führen. Verbote gibt es dabei fast keine: „Je weiter unten im Tal, desto eher kann es vorkommen, dass eine Wand zum Beispiel aus Naturschutzgründen wegen brütender Vögel gesperrt ist“, sagt Bucher. Oberhalb der Baumgrenze aber gebe es keine Sperrungen.

Kritiker warnen trotzdem regelmäßig vor der Verschandelung der Landschaft durch Bergsportler. Nicht ganz zu unrecht. „Den exzessiven Ausbau von Skigebieten oder Touristenattraktionen wie Skywalks sehe ich auch skeptisch“, sagt Zschorn. Bergsport sollte nicht zerstören, sondern immer im Einklang mit der Natur möglich sein. „Ich glaube aber, bei einer Kletterroute ist der Einfluss auf die Berge relativ gering.“

Die Tour der beiden Unterfranken ist am Ende insgesamt 100 Meter lang. Den Einstieg markiert eine goldene Kette zwischen zwei Haken. Als der Mörtel in allen Bohrlöchern getrocknet ist, können Dobler und Zschorn zum ersten Mal wirklich von unten bis zum Gipfel in ihrer Route klettern. Roland Zschorn ist es, der die für Kletterer ruhmvolle Erstbegehung vornimmt.

Mit den im Vergleich zu Kletterschuhen klobigen Bergstiefeln steigt er in die Wand, sucht Halt auf Vorsprüngen und in Spalten, schiebt sich routiniert höher. Etwa in der Mitte der Route muss ein Felsvorsprung, ein kleines Dach, überwunden werden. „Da geht er Puls schon hoch“, sagt Zschorn. Die Gedanken sind völlig fokussiert, die Wahrnehmung verengt sich auf den nächsten Griff, den besten Tritt.

Als der letzte Meter erklettert, der Ausstieg erreicht ist, fällt die Anspannung ab. Die Gefühle oben mit Worten zu beschreiben, fällt beiden Männern schwer. Die strahlenden Gesichter auf den Gipfelbildern müssen für sich sprechen.

Teamwork haben Zschorn und Dobler ihre Route genannt und als das betrachten sie sie auch. Keiner will die Leistung für sich reklamieren, alleine wäre sie nicht möglich gewesen. Denn entstanden ist keine Sportkletterroute, wie die buntgriffigen Touren in Kletterhallen. „Es ist eine alpine Route mit allen Gefahren“, sagt Zschorn. Das heißt beispielsweise Wetterabhängigkeit, Tiefblick, weite Hakenabstände oder loses Gestein. „Bei der ersten Durchsteigung ist mir eine große Schuppe rausgebrochen, da muss man schon ein Auge drauf haben“, sagt Dobler. Wo ihm Bruchstücke oder störendes Gras aufgefallen ist, hat er es nach der Erstbegehung entfernt und die schwierigste Stelle vor dem Dach mit zwei zusätzlichen Haken entschärft.

Es gibt kein Handbuch für Erstbegehungen.

Wie sicher eine Route am Ende ist, sei aber jedem Erstbegeher überlassen, sagt DAV-Experte Thomas Bucher. Offizielle Sicherheitsstandards existieren nicht und auch keine Verkehrssicherungspflicht, denn „Kletterrouten sind kein Weg“. Wiederholt ein Bergsportler eine Route und verletzt sich oder stürzt in den Tod, muss der Erstbegeher weder haften noch trägt er die Schuld, so Bucher. Hundertprozentige Sicherheit kann man in den Bergen nicht garantieren, „eine gewisse Eigenverantwortung ist da“, sagt Zschorn. „Und das zeichnet den Bergsport aus, dass ein bestimmtes Maß an Freiheit besteht.“ So gibt es laut Bucher weder ein Handbuch für Erstbegehungen noch in Gesetze gegossene Regeln. Lokale Kletterkulturen und Traditionen sollten aber beachtet werden.

Gegen Teamwork hatten weder die örtlichen Bergführer in Tirol noch der Wirt der Vernagthütte Bedenken. Als Dobler und Zschorn ihre Ausrüstung einpacken, kommt langsam Stolz auf. Sie haben eine alpine Route geschaffen, in einer Felswand, rund 3000 Meter über dem Boden. „Man realisiert es erst ein bisschen später, was man angestellt hat“, sagt Zschorn. Das letzte Mal soll es nicht gewesen sein: „Vielleicht lässt sich an der Kante daneben noch etwas bohren“, sagt der 55-Jährige. Vielleicht wieder im Team mit Dobler, sicher mit der gleichen Begeisterung. „Denn auch wenn es kitschig klingt“, sagt Dobler, „du hast damit etwas geschaffen, was dich überdauert.“

Schwarzkögele und Alpenverein

Der gut 3079 Meter hohe Gipfel Schwarzkögele liegt in den Ötztaler Alpen in Tirol. Von der Vernagthütte, die von der Sektion Würzburg des Deutschen Alpenvereins (DAV) betrieben wird, ist er in etwa eineinhalb Stunden zu Fuß zu erreichen. Die DAV-Sektion Würzburg ist 1876 gegründet worden. Im Jahr 2016 zählt sie nach eigenen Angaben mehr als 10 000 Mitglieder. Gesetze oder ein Handbuch für Erstbegehungen gibt es laut Alpenvereinssprecher Thomas Bucher nicht. Handlungsleitlinien sowohl für die Erschließung neuer Routen als auch für die Sanierung bestehender Touren finden sich aber auf der DAV-Homepage. sp
Die beiden Würzburger Kletterer arbeiten sich von oben in die Route.
Foto: Roland Zschorn/Jürgen Dobler | Die beiden Würzburger Kletterer arbeiten sich von oben in die Route.
Roland Zschorn am Gipfel.
Foto: Roland Zschorn/Jürgen Dobler | Roland Zschorn am Gipfel.
Arbeit in der Senkrechten.
Foto: Roland Zschorn/Jürgen Dobler | Arbeit in der Senkrechten.
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