Selten waren 8,50 Euro so umstritten. Steigende Preise, sterbende Unternehmen, sicherlich Jobverluste – Ökonomen und Experten sahen vor Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes am 1. Januar 2015 schwarz. Nun gilt die Lohnuntergrenze in Deutschland seit knapp einem Jahr. Die Bilanz von Gewerkschaften und Wirtschaft geht weit auseinander.
Alle Schwarzmaler auf Arbeitgeberseite hätten sich geirrt, sagt Frank Firsching, Geschäftsführer des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) für die Region Unterfranken. Seine Liste der positiven Mindestlohn-Folgen ist lang: neue Stellen, weniger Insolvenzen, verbesserte Kaufkraft unterer Einkommensschichten. Zudem seien heute weniger Mini- und Midijobs als vor einem Jahr registriert – ein Indiz für die Umwandlung in reguläre Teilzeitbeschäftigungen.
Das allerdings sieht die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) ganz anders. Für Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt sind bundesweit rund 200 000 weniger Minijobs seit Anfang des Jahres eine „sichtbare negative Auswirkung“ des Mindestlohnes. Eine weitere: Viele Unternehmen könnten keine freiwilligen Praktika mehr für über drei Monate anbieten. Und das sei vermutlich noch nicht alles, manche Folgen würden erst später sichtbar.
Viel Positives aber scheint die Wirtschaft von der Gewöhnung nicht zu erwarten. Es bleibe dabei: „Der Mindestlohn war und ist falsch. Er schafft zusätzliche Bürokratie und vernichtet Beschäftigungschancen“, sagt Brossardt.
Die Angst vor der „Bürokratielawine“, sie begleitete die Lohnuntergrenze von Anfang an. Laut Brossardt beklagt vor allem die bayerische Metall- und Elektroindustrie einen Mehraufwand. Schuld daran seien die Auftraggeberhaftung oder die Aufzeichnungspflicht der täglichen Arbeitszeit. Letztere war zunächst auch bei der Handwerkskammer für Unterfranken (HWK) auf Kritik gestoßen.
Das Handwerk war nie gegen den Mindestlohn, sagt HWK-Sprecher Daniel Röper. Wohl aber gegen ein „zu viel an Bürokratie“, das die Betriebe überfordere. Diese Befürchtung habe sich am Anfang bewahrheitet. Erst die Lockerung der Dokumentationspflicht durch Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) im Sommer brachte Entspannung. Das habe den Handwerksbetrieben in der Region sehr gutgetan, sagt Röper. Heute bestätigen nach seinen Angaben die Kreishandwerksmeister von Kitzingen, den Haßbergen und Aschaffenburg unisono, der Mindestlohn sei kein Streitthema mehr, es gebe derzeit keine Beschwerden.
Profitiert von der Lohnuntergrenze haben in Unterfranken laut DGB rund 22 250 Vollzeitbeschäftigte; mit Teilzeit- und Minijobs, seien es etwa 125 000 Menschen. Vorteile bringe das Gesetz vor allem für Frauen und Angestellte in der Gastronomie, im Handel oder im Dienstleistungsgewerbe. Aber: Werden die 8,50 Euro überall anstandslos gezahlt? Mehrheitlich ja, davon geht Firsching aus. Umgehungen gebe es, aber „mit Sicherheit in einem überschaubaren Umfang“. Die von den Juristen des DGB erwartete Vielzahl an Verfahren zum Mindestlohn sei jedenfalls ausgeblieben, sagt Klaus Franz, Rechtssekretär des DGB Unterfranken. Allerdings vermutet er eine hohe Dunkelziffer, gerade bei prekären Beschäftigungsverhältnissen. Ob getrickst werde, bei Arbeitszeiten etwa, wisse auch die HWK nicht, so Röper. Für das Handwerk in der Region sei das Thema Mindestlohn heute aber hinter die Fachkräftesuche zurückgetreten.
Verstummt ist die Kritik jedoch nicht bei allen Arbeitgebern, Nachbesserungen werden angemahnt. Die Auftraggeberhaftung zum Beispiel müsse gestrichen werden, sagt Brossardt. Und aufgestockt werden dürften die 8,50 Euro keinesfalls schon 2017. Warum? Weil sonst die Eintrittshürde in den Arbeitsmarkt weiter erhöht werde, so Brossardt.
Eine Hürde, die von anderer Seite als Schutzmaßnahme etwa für Flüchtlinge interpretiert wird. Der Mindestlohn müsse gelten, egal woher ein Mensch komme, sagt Firsching und teilt damit Ministerin Nahles Position. Beschäftigte dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sonst könnten 8,50 Euro zum Störfaktor für Integration werden. Mitarbeit Kristian Lotzina
Lohnuntergrenze, Ausnahmen und Lockerung
Der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gilt seit 1. Januar 2015 für alle Arbeitnehmer über 18 Jahren. Kontrolliert wird die Einhaltung durch den Zoll (Finanzkontrolle Schwarzarbeit). Ausnahmen vom Mindestlohn gibt es unter anderem für Auszubildende, ehrenamtlich Tätige oder Praktikanten bis zu drei Monaten.
Ein halbes Jahr nach Einführung der Lohnuntergrenze hat Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) die umstrittenen Dokumentationspflichten gelockert: Bei längerfristigen Arbeitsverhältnissen müssen Arbeitgeber die Arbeitszeit nicht mehr aufzeichnen, wenn der Lohn 2000 Euro brutto übersteigt und die letzten zwölf Monate tatsächlich bezahlt wurde. Komplett entfällt die Gehaltsschwelle von 2958 Euro, bis zu der in Schwarzarbeit-anfälligen Branchen die Arbeitszeit aufzuzeichnen ist, aber nicht. Text: dpa/sp