Rafael Jakubietz ist ein großer, schlanker Mann mit kurzen blonden Haaren. Seinen strahlenden braunen Augen sieht man an, dass er gerne lacht. Jakubietz wirkt wie ein Kumpeltyp, mit dem man so ziemlich jeden Blödsinn machen kann. In erster Linie ist Jakubietz aber Arzt. Genauer: Leiter der plastisch-ästhetischen Chirurgie an der Uniklinik in Würzburg. Spezialgebiet: Handchirurgie. Gerade erst hat er zusammen mit seinem Zwillingsbruder Michael einem jungen Mann beide Daumen rekonstruiert. Ein extrem seltener Fall, wie Jakubietz erklärt. „Ich glaube nicht, dass ich das noch einmal erleben werde“, sagt der 41-Jährige. Dabei schwingt in seiner Stimme so etwas wie Stolz mit.
Daumen müssen gerettet werden
Es war am Mittwoch vor drei Wochen. Rafael Jakubietz' Zwillingsbruder Michael hatte Nachtschicht als Maurice Fechner in die Uniklinik eingeliefert wurde. Zwei Daumen sind zu viel für einen Arzt. „Bei so einem Unfall muss alles extrem schnell gehen, damit der Finger wieder durchblutet wird, da kann man nicht alleine arbeiten“, sagt Rafael Jakubietz. Die Daumen seien im Zweifelsfall wichtiger noch als alle anderen Finger, deshalb werde immer versucht, diese zu retten.
Wenn das nicht funktioniert, dann könne man gegebenenfalls sogar die große Zehe als Daumenersatz nehmen, erklärt der Arzt.
Also rief der Zwillingsbruder Rafael Jakubietz an und beorderte ihn ins Krankenhaus. Die Brüder haben parallel gearbeitet. Jeder an einem Daumen. Zuerst wurden die abgetrennten Finger vorbereitet. „Das ist nicht anders wie zum Beispiel bei einem Schweißer“, sagt Rafael Jakubietz. Eine knappe Stunde legten Rafael und Michael Jakubietz die Knochen frei. Zum Glück seien die Daumen gut gelagert und transportiert worden. Das sei sehr wichtig.
Man dürfe abgetrennte Körperteile nicht direkt auf Eis legen, sondern müsse sie trocken einpacken. Zum Beispiel in ein Taschentuch oder eine Binde. Dann wasserdicht verpacken und erst danach mit Eis kühlen. Der Rettungsdienst habe dafür spezielle Tüten, erklärt Jakubietz weiter.
Die Venen als kniffligster Teil
Nach den Vorbereitungen kam der junge Patient in den OP. Dort legten die Zwillingsbrüder Sehnen und Gefäße aneinander. „Da macht man dann einen Knoten. Das ist eigentlich dasselbe wie bei einem Schnürsenkel“. Danach seien die Venen dran gewesen – der kniffeligste Teil, denn diese seien an der Hand sehr klein und es gebe sehr viele davon. Nach drei Stunden und knapp 30 Minuten waren die Brüder fertig. Ziemlich schell, wie Jakubietz erklärt. So eine OP könne auch schon mal sechs Stunden brauchen.
Unfallursache technischer Defekt
Maurice Fechner kommt strahlend aus dem Zimmer Nummer 165 im zweiten Stock der Uniklinik. Seine beiden Hände und die Arme sind bis fast zum Ellenbogen in einem Verband und einer blauen Schiene. Nur die Spitzen der beiden Daumen sind zu sehen. Aus ihnen ragt eine stecknadelkopfgroße Schraube senkrecht heraus. Das fällt aber nur bei genauerem Hinsehen auf. Fechner lacht viel und macht einen recht glücklichen Eindruck. Er fühlt sich wohl in der Klinik. Vielleicht ist es aber auch die Vorfreude auf zu Hause. Denn die Zeit in der Uniklinik neigt sich dem Ende zu.
Wenn Fechner von der Unfallnacht erzählt, ändert sich seine Stimmung kaum. Mit rollendem R und strahlendem Lächeln beschreibt er, wie er Nachtschicht hatte. Der 25-Jährige arbeitet im familieneigenen Straßenbaubetrieb in Duisburg. Die Firma montiert deutschlandweit Leitplanken. In der Unfallnacht war der Trupp auf der A 6 bei Schnelldorf unterwegs. Die Pfosten wollten aber nicht so richtig in die ausgehobenen Löcher passen. Also rief Maurice Fechner einen Kollegen. Dieser half beim Bedienen einer speziellen Maschine, der Ramme. Diese sieht wie ein kleiner Kran auf einem Lkw aus. Mit viel Wucht hämmert sie die senkrechten Streben in den Boden. Dabei umschließt sie die Leitplanke. „Das ist ein bisschen wie ein Presslufthammer“, versucht Fechner zu erklären.
An besagtem Dienstag vor drei Wochen arbeitete die Maschine nicht exakt. Sie hämmerte die Planken wieder schief in den Boden. Also sollte Fechner die Streben mit der Hand aus dem Loch heben. In diesem Moment löste sich wahrscheinlich eine Schraube, und die Maschine fiel auf Fechners Hände. Er verlor beide Daumen. Wenn er über seine Zukunft redet, wird Maurice Fechner ein bisschen ernst. In vier bis sechs Wochen kommen die Schrauben aus seinen Daumen und dann geht es in die Reha.
Erst dort wird sich zeigen, ob Fechner seine Daumen wieder bewegen kann. Im günstigsten Fall spürt er irgendwann auch wieder, wenn er sich verbrennt. Das kann aber Jahre dauern. Der Duisburger ist froh, dass er an der Uniklinik gelandet ist. „Die Mannschaft hier ist echt cool“, erzählt Fechner. Bei den Jakubietz-Zwillingen fühlt er sich gut aufgehoben. Sie seien witzig und immer für einen Spaß zu haben.
Zwei Brüder, ein Ziel
Dass die Brüder im selben Krankenhaus landen, war so nicht geplant. Sie hätten schon früher fast alles gemeinsam gemacht. Die Eltern hätten sehr auf Gerechtigkeit geachtet, erzählt Rafael Jakubietz. „Wir hatten eigentlich immer mehr oder weniger die gleichen Interessen.“ Das geht so weit, dass beide ihre Doktorarbeit über ein ähnliches Thema schrieben. Nach dem Medizinstudium trennten sich die Wege. Rafael Jakubietz ging nach Amerika, Michael in die Schweiz. Irgendwann waren sie aber auch dort wieder zusammen.
Dann bekam Rafael Jakubietz eine Stelle an der Uniklinik in Würzburg. Ohne, dass es geplant war, folgte der Bruder ein halbes Jahr später. „Wir schicken immer einen vor, der die Lage checkt“, scherzt Rafael Jakubietz. Die Faszination für die Chirurgie haben eben beide Brüder. Es sei wie bei einem Handwerker. Man sei stolz, wenn etwas steht. „Du arbeitest nachts, bist verschwitzt, vielleicht auch schon ein bisschen müde und dann machst du die Blutsperre auf und siehst, wie das Blut in die Hand fließt. Das gibt eine tiefe Befriedigung“, schwärmt der 41-Jährige von seinem Beruf. Dabei funkeln seine Augen, sein ganzes Gesicht strahlt, die Leidenschaft für das, was er tut, ist zu spüren. Dann klingelt das Telefon. Jakubietz muss in den OP – vielleicht wieder einen Daumen retten.