
Wenn Martin Neisser spricht, ist er gelassen. Die Wörter fließen sorgfältig über seine Lippen. Bis der 43-Jährige plötzlich stockt. Ihm bleibt die Luft weg, das Wort staut sich zwischen Kehle und Mund. Eine Pause steht im Raum. Zwei oder drei Sekunden vergehen. Für einen kurzen Moment strengt es ihn an, sein Kiefer ist angespannt – bis das Wort rausrutscht. Was seine Gesprächspartner in dieser Situation oft nicht wissen: Martin Neisser stottert, er hat sogenannte Blocks, verkürzt für Blockaden.
Immer wieder muss er Mauern in seinem Mund überwinden. „Ich weiß, was ich sagen will, kann es aber nicht“, beschreibt er den Kontrollverlust. 800 000 Menschen in Deutschland geht es ähnlich. Der Welttag des Stotterns, der am 22. Oktober stattgefunden hat, will Betroffenen Gehör verschaffen und Vorurteile aus dem Weg räumen.
Besonders harte in der Schule und Pubertät
Der Würzburger stottert seit seinem dritten Lebensjahr. Das hat er aber nicht immer so locker genommen wie heute. „Früher wäre ich vor Anstrengung schon längst mit dem Kopf auf den Tisch geknallt“, sagt er. Es gab Zeiten, in denen er lieber stumm gewesen wäre als zu stottern. Besonders hart waren seine Schulzeit und Pubertät. Abfragen vor der ganzen Klasse oder der Reihe nach Vorlesen – das waren Situationen, die er vermieden hat. „Wenn ich wusste, jetzt bin ich gleich dran mit Vorlesen, dann war ich meistens schon nicht mehr an meinem Platz“, erinnert er sich. „Als Teenager wollte ich cool sein, konnte aber in solchen Situationen alles andere als cool sein.“
Wie hoch sein Leidensdruck vor seiner Schulzeit war, weiß er nicht mehr. Es gab jedoch ein tragisches Ereignis, nach dem seine Sprechstörung schlimmer wurde. Ein Krankenhausaufenthalt „bei dem es um Leben und Tod ging“, erzählt er. Er erkrankte im Alter von drei Jahren an einer Hirnhautentzündung und konnte seine Eltern tagelang nur durch eine Glaswand sehen aufgrund der Ansteckungsgefahr.
Stotternde sind nicht weniger intelligent
Ob dieses Ereignis ausschlaggebend für sein Stottern war, ist nicht sicher. Denn Stottern tritt meist ohne offensichtlichen Anlass auf. In der Forschung gibt es mehrere Theorien, viele Betroffene haben auch eine Veranlagung dazu. Was aber sicher ist: Stotternde sind nicht weniger intelligent und haben auch keine psychische Störung. Dennoch haben viele Menschen diese Vorurteile, wenn sie auf Stotternde treffen, sagt Neisser.
Das Gymnasium hat er abgebrochen, holte sein Abitur aber nach seiner Lehre zum Radio- und Fernsehtechniker auf dem zweiten Bildungsweg nach. Danach studierte er Elektrotechnikingenieur und arbeitet heute an der Universität Würzburg im Informatik–Bereich. Als er damals vom Gymnasium auf die Realschule wechselte, nahm das viel Druck von ihm und sein Sprechen wurde flüssiger, erinnert er sich. Verschwunden war das Stottern aber nie. Sprechen vermeiden war eine Strategie, Therapie eine andere.
Mit Atemtechniken das Stottern kontrollieren
Mit 15 Jahren machte Neisser eine rund vierwöchige Intensivtherapie in Inzell. Er lernte Atemtechniken, mit denen er das Stottern kontrollieren konnte. „Kurz danach war mein Sprechen zwar flüssig, aber so wollte ich nicht sprechen“, erinnert er sich. Denn durch die Technik hat er stark monoton gesprochen. Ein Problem, das viele Betroffene haben: Manche Techniken klingen zunächst so, als tauscht man das Stottern gegen eine neue Sprechstörung.
Der Druck nach der Therapie war groß. Zum einen durch die Kontrollanrufe des damaligen Therapeuten, zum anderen, weil die Behandlung viel Geld gekostet hat. Das führte dazu, dass sich das Stottern ein viertel Jahr danach sogar verschlimmerte. Damals gab es noch nicht die Möglichkeiten von heute. Neisser: „Es gab kein Internet, wo man sich austauschen konnte, sondern nur die Tipps der Ärzte, auf die man sich verlassen musste.“
Mit Strategien das Stottern vermeiden
Es vergingen rund 15 Jahre bis zu seiner zweiten Therapie. In dieser Zeit entwickelte er eigene Strategien. Er redete oft wortwörtlich um den heißen Brei, versuchte Wörter zu ersetzen oder erst gar nicht zu sprechen. Reden war oft so anstrengend, dass er in Stresssituationen möglichst wenig mit anderen zu tun haben wollte. Auch in seiner Familie konnten nicht alle locker damit umgehen. Seine Großeltern dachten, sie müssen ihn immer wieder darauf aufmerksam machen. „Junge, heute war es aber wieder besonders schlimm“, bekam er nach Familientreffen zu hören.
Bei seiner zweiten Therapie war er bereits 30 Jahre alt. Diesmal ist er mit viel weniger Druck in die Therapie. Neisser: „Ich dachte mir, mal schauen, was dabei raus kommt.“ Bei einem Sprachheilpädagogen in Würzburg entdeckte er eine Stotter-Therapie für sich, bei der er Techniken lernte, mit denen er das Stottern besser kontrollieren kann ohne seine komplette Sprechweise zu verändern.
Selbsthilfe: „Ich habe mir so eine Psycho-Gruppe vorgestellt"
Wer sich heute mit Martin Neisser unterhält, merkt schnell: Er leidet kaum noch unter dem Stottern. „Mit dem Alter lässt das Schreckgespenst Stottern nach“, sagt er. Seit 1996 ist er aktiv in der Selbsthilfegruppe Stottern in Würzburg. Bis er das erste Mal zu einem Treffen ging, hat er allerdings Wochen gebraucht. „Ich habe mir so eine Psycho-Gruppe vorgestellt, in der sich alle ihre Probleme vorheulen und dann muss man dort auch noch sprechen“, erzählt er und lacht. Heute ist er sogar der Ansprechpartner für alle, die sich der Gruppe anschließen wollen.
In der Gruppe hat er sich zum ersten Mal richtig auseinandergesetzt mit dem Stottern. Er las Fachbücher und Wissenschaftliches rund um seine Sprechstörung. Heute ist er ein echter Experte für das Stottern. Mit der Gruppe besuchte er Würzburger Schulen, um über das Stottern aufzuklären.
Heute kann er mit dem Stottern umgehen
Bis vor rund zwei Jahren war er an der Berufsfachschule für Logopädie in Würzburg in Behandlung. Dort probierte er verschiedene Therapien aus, unter anderem das kinästhetisch-kontrollierte Sprechen. Eine Behandlung, bei der über die bewusste Wahrnehmung seiner Störung das Stottern reduziert werden kann, die ihm sehr geholfen hat. Aktuell ist er nicht in Behandlung. Zum einen hat er kaum Zeit, zum anderen hat er gelernt, mit seinem Stottern umzugehen.
In seiner Familie ist das Stottern kein Thema. Seine sechsjährige Tochter nimmt das gar nicht wahr und auch für seine Frau war das nie ein Problem. Bei Menschen, mit denen er regelmäßig zu tun hat, spricht er das Stottern offen an. Sprechen vor größeren Gruppen, Vorstellungsrunden oder Gespräche mit Vorgesetzten fallen ihm heute noch schwer.
Vor kurzem hatte er eine Blockade, als er sich vorstellen wollte. Ein Kollege fand das lustig: „Oh jetzt hat er seinen Namen vergessen“, scherzte er. Der 43-Jährige nahm es locker und klärte ihn auf. Denn „wenn die anderen bescheid wissen, nimmt das den Druck“. Von seinen Mitmenschen wünscht er sich, dass sie ganz normal mit ihm umgehen. Neisser: „Wer mich nicht so akzeptiert wie ich bin, mit demjenigen will ich nichts zu tun haben.“
Die Selbsthilfegruppe Stottern trifft sich jeden zweiten Mittwoch im Monat von 20 bis 22 Uhr im Selbsthilfe-Haus der Stadt Würzburg in der Scanzonistraße 4, zweiter Stock. Mehr Informationen unter: www.wuerzburg-stottert.de