
Wenn Gisela Diez aus Würzburg auf ihr Leben blickt, findet sie drastische Worte: "Ich bin eine Gefangene in meiner Wohnung." Die 80-Jährige kann nicht mehr laufen, auch ihr 87-jähriger Mann ist körperlich eingeschränkt. Doch über ihre Krankheit möchte Gisela Diez nicht sprechen. Lieber über Dankbarkeit. Denn Dankbarkeit ist das, was sie fühlt, wenn sie an Hildegard Schmidt denkt.
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Schmidt wohnt im Mehrfamilienhaus drei Stockwerke unter Diez im Parterre. Sie wird in wenigen Wochen 85 Jahre alt, aber sie hilft der Nachbarin, wo sie nur kann. Sie bringt die Zeitung durch das Treppenhaus die vielen Stufen hoch, sie nimmt den Abfall mit hinunter. Und vier, fünf Mal in der Woche läuft Hildegard Schmidt zum Edeka-Markt im Viertel und holt mit ihrer Tragetasche die Bestellungen von Gisela Diez ab. Wurst. Käse. Gemüse. Lebensmittel und Dinge des Alltags eben. Alles unentgeltlich. "Ihre Hilfe bedeutet mir unheimlich viel", sagt Diez, "ich kann das gar nicht ausdrücken. Ich bin ihr so dankbar".
Nächstenliebe wird von keiner Statistik erfasst
Rund 28,8 Millionen Menschen engagieren sich in Deutschland freiwillig. So steht es im jüngsten "Freiwilligensurvey", einer Studie, die im Fünfjahresrhythmus im Auftrag des Bundesfamilienministeriums erscheint. Erfasst werden darin Tätigkeiten, "die freiwillig und gemeinschaftsbezogen ausgeübt werden, im öffentlichen Raum stattfinden und nicht auf materiellen Gewinn ausgerichtet sind". Meist engagieren sich die Menschen in Vereinen, in der Kommunalpolitik oder Interessengemeinschaften. Die Nächstenliebe im Kleinen, wie in diesem Würzburger Mehrfamilienhaus, die wird von keiner Statistik erfasst. Aber sie ist exemplarisch.

"Das ist eine unterschätzte Form bürgerschaftlichen Engagements", sagt Rainer Sprengel vom Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) in Berlin. Nachbarschaftshilfe habe hierzulande eine "gewaltige Bedeutung". Das Beispiel aus Würzburg sei "ganz phantastisch", findet Sprengel. "Man kann es nicht hoch genug einschätzen, wenn jemand knapp bemessene Lebenszeit für jemand anderes einsetzt."
Für Hildegard Schmidt ist Hilfe selbstverständlich
Hildegard Schmidt, das ist schnell zu spüren, ist es fast ein wenig peinlich, dass sie von Gisela Diez für die Aktion "Zeichen setzen!" vorgeschlagen wurde. Anderen helfen? Sie kennt es nicht anders. Sie ist mit ihren Geschwistern als Waise von der Großmutter in Unteraltertheim (Lkr. Würzburg) großgezogen worden. Die Oma hat den Enkelkindern zwei Dinge mit auf den Weg gegeben: "Stellt nix an!" Und: Wenn jemand Hilfe benötigt, "dann helft".
Es waren Ratschläge fürs Leben. Ihren Mann pflegte Hildegard Schmidt 15 Jahre lang zuhause, so dass er nicht ins Heim musste. Vor fünf Jahren starb er. Ungefähr seit dieser Zeit ging es auch Gisela Diez schlechter. Seitdem erledigt die rüstige Dame aus dem Parterre fast täglich kleine Dinge für die kranke Mitbewohnerin im Obergeschoss. "Das ist doch selbstverständlich", sagt Hildegard Schmidt. "Mir geht's gut, da will ich etwas zurückgeben."
Eine selbstlose Ader - ist das dumm?
Sie holt die Einkäufe, erledigt manchmal auch eine Besorgung in der Innenstadt. "So lange ich es machen kann", sagt die hilfsbereite Seniorin, "so lange mache ich es".
Nicht jeder hat Verständnis für die selbstlose Ader. "Manche Leute sagen, ich sei schön dumm, weil ich das alles mache." Hildegard Schmidts Antwort ist entwaffnend: "Warum sollte ich dumm sein, wenn ich jemandem helfe?"
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