Im nächsten Mai vor 100 Jahren wurde in Würzburg Ludwig Pfeuffer geboren. Mitte der 1930er floh seine Familie nach Jerusalem, wo sie den Namen Amichai ("mein Volk lebt") annahm. Der Sohn nannte sich von da an Jehuda und wurde der bedeutendste moderne Dichter Israels. Er wagte es, die hebräische Alltagssprache in seine Gedichte aufzunehmen. In seiner Geburtsstadt spielt sein einziger Roman: "Nicht von jetzt, nicht von hier", erschienen 1963, plädiert in anspruchsvoller Form dafür, die Vergangenheit nicht zu verdrängen – nur in der bewussten Auseinandersetzung kann sie bewältigt werden.
Mit diesem Künstler befassen sich dieser Tage 13 junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller bei einem Workshop im jüdischen Kulturzentrum Shalom Europa. Die Autoren stammen aus Würzburg, Berlin und Jerusalem und arbeiten seit Donnerstag vier Tage lang an Motiven aus dem Leben Jehuda Amichais, seinen Gedichten, Stoffen und Denkweisen; oder sie sprachen in Würzburg mit Leuten, die ihrerseits dem 2000 gestorbenen Dichter nahestanden.
Zu hören im jüdischen Kulturzentrum Shalom Europa
Die Früchte dieses Writers Gathering werden an diesem Sonntag ab 18 Uhr im Shalom Europa vorgetragen, in Deutsch, Englisch und Hebräisch: "Eine interlinguale Reise in Jehuda Amichais Geburtsstadt" Daszu gibt es Musik unter dem gemeinsamen Titel "Open, Closed, Open" – nach der Gedichtsammlung "Patuach Sagur Patuach". Moderiert wird der Abend in Englisch. Der Eintritt ist frei, Spenden sind willkommen.
Workshop und Präsentation werden vielschichtig ausfallen. Das liegt auch an den beiden Initiatoren. Yona-Dvir Shalem promoviert derzeit in Altorientalistik an der Würzburger Uni. Aber: Schon früh während seines Studiums in Tel Aviv wurde er Forschungsassistent bei den Nanotechnologen, arbeitete als Mathematiker und Informatiker. Seit langem beschäftigt er sich mit Bibelwissenschaften. Die Liebe zum Deutschen, bekennt er, habe er während seiner Oberschulzeit in Zürich entdeckt.
Auch der Initiator Eran Shasha Evron aus Jerusalem ist international umtriebig. Letztes Jahr verbrachte er vier Monate als Stipendiat in München. Dort genoss er das Dichten im öffentlichen Raum: Weil er Hebräisch schreibt, konnte kein Bibliotheksnachbar mitlesen. Vielmehr konnte er unter aller Augen die geheimen Freuden des kreativen Schaffens erleben. Aufgrund seiner deutschen, britischen und irakischen Familie verbrachte er einen Teil seines Lebens im Ausland, spricht verschiedene Sprachen. Er lehrt kreatives Schreiben, sein erster Roman "Lehashiv Chai Avud" (Das verlorene Leben zurückholen) wird 2024 erscheinen.
Amichais 100. Geburtstag naht
Alles sehr grenzüberschreitend! Dazu passt, dass Shasha Evron und Shalem sich auf einer Neujahrsfeier im Elsass kennenlernten – ein "mystisches Treffen", sagen sie heute. Der München-Stipendiat und der Wahl-Würzburger Student nutzten ihre räumliche Nähe, um gemeinsam literarisch zu arbeiten. Und dann fiel ihnen auf, dass Amichais 100. Geburtstag nahte. Nun hatten sie stets eifrig junge deutsche und hebräische Schriftsteller gelesen, "die in ihrem Schreiben mit den Themen Abstammung, Entwurzelung, Sehnsucht und Zugehörigkeit interagieren", antwortet Shalem auf die Frage, wie sie die Writers-Gathering-Teilnehmenden ausgewählt haben. Shasha Evron ergänzt, die größte Gemeinsamkeit sei Amichai selbst. Die Autoren hätten "sich in diesem Jahr mit Amichais dichterischem Erbe beschäftigt und die Zeit und Energie investiert, die für einen Besuch in seiner Geburtsstadt notwendig sind".
Und warum "Open, Closed, Open"? Die beiden erklären, die Begriffe "offen" und "geschlossen" seien in Amichais Poesie allgegenwärtig. Ebenso sei ihre Performance am Sonntag einerseits die Abschlussveranstaltung, andererseits der Auftakt zu weiteren Amichai-Gedenkveranstaltungen im kommenden Jahr.
Die Veranstaltung findet am Sonntag, 6. August, um 18 Uhr im Jüdischen Gemeinde- und Kulturzentrum Würzburg in der Valentin-Becker-Str. 11 statt.