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WÜRZBURG
„Lindner macht so etwas nicht ohne strategisches Kalkül“
Benjamin Stahl
 |  aktualisiert: 24.11.2017 03:01 Uhr

Eine Staatskrise haben wir nicht, sagt der Würzburger Politikwissenschaftler Thomas Leuerer. Aber eine Regierungskrise sehr wohl. Im Interview erklärt er, welche Folgen das Scheitern der Jamaika-Sondierungen hat.

Frage: Die Jamaika-Sondierungen sind gescheitert. Wer hat Schuld?

Thomas Leuerer:Von Schuld kann man hier nicht sprechen. Man muss das nüchtern sehen: Das war ein Unternehmen, das funktionieren kann, aber nicht funktionieren muss. Und jetzt ist es gescheitert – vorerst. Angesichts der unterschiedlichen Verhandlungspositionen der Parteien war das vorstellbar. Politikwissenschaftlich gesehen kooperieren Parteien dann, wenn ein mindestens so schmaler Grat an Übereinstimmungen vorhanden ist, dass beide einen Gewinn davon haben. In diesem Fall hätten vier Parteien einen Gewinn haben müssen. Für die FDP war dies offensichtlich schneller nicht mehr der Fall als für die anderen Parteien. Herr Lindner hat die Konsequenz daraus gezogen. Das steht ihm als Parteivorsitzendem zu. Er hat sich nicht systemwidrig verhalten.

Einige glauben, der Abbruch der Gespräche war von der FDP von langer Hand geplant.

Leuerer: Ich kann nicht ganz im Ernst glauben, dass jemand wie Herr Lindner, der das Geschäft schon lange betreibt und Höhen und Tiefen kennt, in einem emotionalen Moment hinausstürmt und alles hinwirft – in Absprache mit Beratern und Partei. Ich bin mir absolut sicher, dass die FDP wie alle anderen Parteien auch solche Szenarien und auch ihre Reaktion darauf besprochen hatten. Herr Lindner macht so etwas nicht ohne strategisches Kalkül. Jetzt hat er einen mächtigen Brocken hingeworfen, an dem die anderen zu kauen haben. Dahinter steckt auch eine Erwartung...

Welche?

Leuerer: Zunächst einmal Druck auf die anderen auszuüben. Vor allem auf die Grünen, mit denen es offenbar die geringsten Schnittmengen gab. Aber auch die CSU gerät unter Druck. Es wurde ja in den letzten Wochen immer gewitzelt, Jamaika könne schon zustande kommen, wenn man die CSU draußen ließe.

Sie halten Jamaika also noch nicht endgültig für gescheitert. Aber in zentralen Fragen – Migration oder Energie etwa – liegen die Parteien schon sehr weit auseinander.

Leuerer: Ich habe mich tatsächlich gefragt, wie das genau gehen soll. Obwohl ich eher geglaubt hatte, dass die Grünen irgendwann nicht mehr anders könnten, als aus den Verhandlungen auszusteigen. Ich hätte aber vermutet, dass der Drang danach, eine Regierung zu bilden, stärker sein wird. In der Politikwissenschaft gab es seit langem die Prognose, in Zukunft würden zwei Parteien nicht mehr ausreichen, um eine Regierung zu bilden. Die Situation hätte auch schon eher eintreten können: Schon zweimal wäre Rot-Rot-Grün möglich gewesen. Die SPD hat eine solche Koalition gescheut und hatte ihre Gründe. Die Union ist jetzt, wohl aus der Not heraus, diesen Weg gegangen und musste erkennen, wie steinig dies ist. Vielleicht wird man sich in Deutschland an solche Verhandlungen gewöhnen müssen. Das ist auch eine Folge sich verändernden Wahlverhaltens und eines sich verändernden Parteiensystems im Parlament.

Sind die Verhandlungen nur an Themen gescheitert oder auch an Personen?

Leuerer: Persönliche Beziehungen spielen sicher eine Rolle, ich würde das aber nicht überbewerten. Ich glaube nicht an eine persönliche Fehde. Die Verhandler sind professionelle Politikerinnen und Politiker. Sie kennen und folgen Spielregeln und sie kennen sich untereinander.

Es sieht nun alles nach Neuwahlen aus. Wie bewerten Sie die Situation, in der Deutschland gerade steckt?

Leuerer: Es gibt weder einen Anlass, noch eine Berechtigung für einen Generalverriss des Parteiensystems und des politischen Systems insgesamt. Die Ordnung des Grundgesetzes hat eine Situation, wie es sie jetzt gibt, schon 1949 im Blick gehabt und Vorkehrungen getroffen. Bis es aber zu einer Neuwahl kommt, muss noch vieles passieren. Und bis dahin werden – fast – alle Parteien noch einmal miteinander verhandeln. Solange sind wir übrigens nicht ohne Regierung: Wir haben eine geschäftsführende Regierung, in der die SPD noch Minister stellt. Es gibt jetzt also keinen Grund für Hysterie. Wir haben keine Staatskrise, sondern eine Regierungskrise. Das ist unangenehm und sicher kein Dauerzustand, aber es ist nicht das Ende der Welt.

Sie sprechen die SPD an: Die Sozialdemokraten haben eine Große Koalition am Montag noch einmal ausgeschlossen. War das das letzte Wort?

Leuerer: Der Parteivorstand betont das ausdrücklich. Die SPD hat in keiner der beiden jüngsten Großen Koalitionen einen zählbaren Erfolg erreicht, im Gegenteil. Es müsste sich also für die Partei aus einem Koalitionsangebot mehr Aussicht auf Erfolg ergeben als die Gewissheit, staatstragend gehandelt zu haben. Zudem ist unsere Demokratie nicht auf übergroße Parlamentsmehrheiten ausgelegt, sondern auf alternierende Mehrheiten und hierfür braucht man Union und SPD im Wettstreit miteinander. Eine neue Große Koalition wäre eine zu offensichtliche Notlösung.

Inwiefern wirkt sich das Scheitern der Jamaika-Sondierungen auf den Machtkampf innerhalb der CSU aus?

Leuerer: Das ist schwierig einzuschätzen, wenn man nicht selbst in der Führung der CSU sitzt. Die Partei hatte immer einen bundespolitischen Anspruch und den hat Herr Seehofer auch hier deutlich gemacht. Insofern wird er bei den eigenen Wählern kaum verloren haben. Auf der anderen Seite wird ihm das Scheitern der Gespräche auch keine Vorteile bescheren. Die Frage ist wohl parteiintern sehr viel komplexer.

Wäre Angela Merkel bei Neuwahlen noch als Kanzlerkandidatin gesetzt?

Leuerer: Dass über eine Veränderung nachgedacht wird, ist gut möglich. Allerdings: Bei Neuwahlen hätte man keinen sonderlich langen Wahlkampf und die CDU müsste aus dem Stand die Nachfolge regeln. Frau Merkel mag angeschlagen sein, aber sie ist mit Sicherheit noch lange nicht geschlagen. Die CDU hat ihre Erfahrungen mit schwierigen Nachfolgeregelungen. Adenauer zum Beispiel war sehr lange angeschlagen ohne das Amt des Kanzlers deshalb zu verlieren. Ich glaube nicht, dass wir hier das Ende Angela Merkels als Kanzlerkandidatin gesehen haben. Ob Sie Kanzlerin bleiben wird, entscheidet alleine der Bundestag.

Was passiert eigentlich mit Frauke Petry? Die hat die AfD nach der Wahl verlassen und sitzt jetzt als fraktionslose Abgeordnete im Bundestag. Bei Neuwahlen hätte sie wohl kaum eine Chance noch einmal gewählt zu werden. Hat sie sich verspekuliert?

Leuerer: Sie hat das getan, was sie für richtig hielt, hatte aber natürlich keine Versicherung dabei. Es könnte nun im Fall von Neuwahlen der kürzeste Bundestag bislang sein. Sollte es nach Neuwahlen zu Verschiebungen kommen, würden Leute, die gerade ein neues Büro in Berlin bekommen haben und deren Sitz im Reichstag festgeschraubt wurde, ihr Mandat wieder verlieren. Das ist dann persönliches Pech. Das würde wohl Frauke Petry treffen, aber nicht nur sie.

Zur Person

Dr. Thomas Leuerer (Jahrgang 1965) ist Politikwissenschaftler an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft und Systemlehre beschäftigt er sich unter anderem mit dem politischen System der Bundesrepublik und den Gründen für Wahlentscheidungen.
 
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  • Der ganze Bundestag ist nur noch ein Komödienstadel. Jeder schaut nur das er solange wie möglich dort Kohle macht. Deutschland und das Normalvolk sind denen alle egal.
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  • Arcus
    Es kann nicht sein, daß diese magentagelbblauen Posterboy/girl peergroup bestimmt was im Land passiert.
    Diese vaterlandslosen Gesellen wollen doch nur die Reichen noch reicher machen. Die Mitte der Gesellschaft geht dieser raubtierkapitalistischen Vereinigung doch sonst irgendwo vorbei.
    Eine Politzockerpartei hat im Bundestag nichts verloren.
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