Am 23. Juni 1915, einem Mittwoch, setzt sich Adelbert Gümbel im von Deutschen besetzten französisch-belgischen Grenzstädtchen Comines hin, um einen zärtlichen Liebesbrief an seine Frau Maria in Würzburg zu verfassen, die er seit mehr als zehn Monaten nicht mehr gesehen hat. Vorsichtig klebt er getrocknete Blumen auf die erste Seite. „Mein innigst geliebtes süßes Weibchen“ schreibt er der 20-Jährigen. „Alle Blümlein des Gartens müssen dazu beitragen, den Brief meines lieben Herzchens zu schmücken.“
Maria, Mutter des im Mai 1914 geborenen gemeinsamen Sohnes Wilhelm, hat im Herbst 1914 eine schwere Krise erlebt, als ihr die kriegsbedingte Abwesenheit ihres sieben Jahre älteren Mannes schwer zu schaffen machte.
Im Jahr 1915 ist die Krise überwunden, Maria und Adalbert freuen sich auf das Wiedersehen und malen sich die Begegnung aus. Am 6. Februar dankt Maria ihrem „goldigen Liebling“ für seine vielen Feldpostkarten und Briefe und fügt hinzu, dass sie ihm als Dank „am allerliebsten etwas anderes geben“ würde: „Was ich meine, weißt du ja. So gerne würde ich dich lebendig in meinem Bett haben.“
Am 4. März schreibt Maria nach Frankreich, dass sie sich ein weiteres Kind wünscht. „Altes Schnuckelchen!“, schreibt Adelbert zurück. „Warte nur, bis dein Männchen wieder bei dir ist, dann gibt?s am Ende gar gleich zwei?“ Die umfangreiche Korrespondenz des Ehepaars aus dem Krieg wird im Würzburger Staatsarchiv aufbewahrt.
Adelbert Gümbel, der als Schreiber des Divisionsarztes hinter der Front in Nordfrankreich Dienst tut, ist in seinen Briefen auch sonst sehr offen. Häufig berichtet er seiner Frau von Sachverhalten, die von der Zensur unterdrückt werden, beispielsweise am 20. September 1915 über die weite Verbreitung von Geschlechtskrankheiten unter den deutschen Soldaten. Diese würden mit Infomaterial bekämpft.
„Wäre es nicht nötig, so geschähe es nicht“, schreibt Gümbel und skizziert die Verhältnisse: „Abends sieht man die Soldaten in den Ecken stehen mit Französinnen, Frauen und Mädchen. Sie werden mit Bier und Essen von so vielen versorgt und des Frühs beim Ausrücken halten sie sogar die Pferde der Soldaten. Also, da sieht man sehr üble Bilder und leider sind auch recht viele Verheiratete dabei.
“ Die Frage der Treue steht stets im Raum, wenn ein Paar über längere Zeit getrennt ist. Adelbert Gümbel ist ein recht charmanter Mann und in manchen Briefen berichtet er seiner Frau von Flirts mit jungen Französinnen. Immer schwört er ihr aber seine Treue und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass er es ernst meint.
Gümbel scherzt („nur streng in Ehren“, wie er betont) beispielsweise mit der jungen Französin Martha, deren Mann gegen die Deutschen kämpft und in deren Haus Kameraden untergebracht sind. Als er nach Würzburg zurückkehrt, hat er ein Bild Marthas dabei, außerdem Fotos von jungen Französinnen in anzüglichen Posen – offensichtlich beliebte Mitbringsel von Soldaten auf Urlaub.
So offen Adelbert Gümbel in den Briefen ist, so spart er doch ein Thema aus: die massenhafte Befriedigung sexueller Begierden von Soldaten hinter der Front in Bordellen des Reichsheers.
Frühere Kriege sind meist kurz gewesen; der Erste Weltkrieg aber nimmt kein Ende und die Strategen im Großen Hauptquartier verstehen, dass sie sexuell frustrierten Soldaten, die lange von ihren Frauen und Freundinnen getrennt sind, Alternativen anbieten müssen.
In der Propaganda ist der deutsche Soldat keusch und seiner Frau treu, doch die Wirklichkeit sieht anders aus, wie auch Adelbert Gümbel beobachtet. Viele haben Geliebte im besetzten Land, andere gehen zu Prostituierten. Dies führt zu der von Gümbel beobachteten Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten.
Um das Problem in den Griff zu bekommen, errichtet die deutsche Armee ein System von Bordellen hinter der Front. Frauen werden zu Tausenden verpflichtet und bei den Militärbehörden angestellt. Sex ist nur mit Präservativ erlaubt, das die Armee ausgibt, und die im Dienst des Reichsheers tätigen Prostituierten werden regelmäßig medizinisch untersucht. Im Akkord müssen sie für die Befriedigung der Soldaten sorgen.
Erwin Blumenfeld wird 1917 zum Buchhalter des deutschen Militärbordells in der französischen Stadt Valenciennes bestellt. In seiner Autobiographie beschreibt er die Verhältnisse: „Außer mir arbeiteten im Haus achtzehn Damen, davon sechs ausschließlich für die Herren Offiziere, vom Stellmacher an aufwärts. Während den Soldatenbräuten ein Befriedigungsminimum von dreißig Mann oblag, war das Tagespensum jeder Offiziersdame auf fünfundzwanzig beschränkt.“
Sexuelle Not ist kein Phänomen nur unter Frontsoldaten. Auch viele Frauen in der Heimat setzen sich über traditionelle Moralvorstellungen hinweg, indem sie Beziehungen mit Kriegsgefangenen eingehen. Der französische Soldat Septime Gorceix, der von 1915 bis 1917 im Würzburger Lager am Galgenberg interniert ist, beschreibt in seinem Erlebnisbericht „Flucht vom Galgenberg“ mehrere Flirts bei Arbeitseinsätzen außerhalb von Würzburg.
Im Juli 1917 befindet sich Gorceix nach einer ersten gescheiterten Flucht zur Mithilfe bei der Ernte in einem Dorf bei Weilheim. Er wird einer Bauernfamilie zugeteilt, die ihn freundlich aufnimmt. Der Franzose erfährt vom Bauern, dass sein Zimmer in der folgenden Nacht nicht abgeschlossen ist, was er prompt zur zweiten Flucht nutzt.
Zuvor aber entspinnt sich in der Scheune, in der Gorceix mit der 18-jährigen Tochter des Hauses einen Heuwagen abladen soll, folgende Szene: „Um mir die Militärstiefel auszuziehen, stecke ich sie zwischen zwei Zacken einer Heugabel. Das junge Mädchen steift sie mir mit einer ruckartigen Hüftbewegung ab. Ich sehe ihre runden Brüste und ihre nackten Beine unter dem Rock. Ich habe große Lust, ihr Nettigkeiten zu sagen und die Situation auszunützen, aber dann sage ich mir, dass es gefährlich sein könnte, mich auf eine Liebschaft einzulassen, die mich nach einigen Tagen bei der Flucht zögern lassen könnte.“
Eine Affäre mit Gefangenen ist auch für die Frauen problematisch. Wenn sie sich mit französischen Kriegsgefangenen einlassen und ertappt werden, folgen ein öffentlicher Gerichtsprozess mit mehrmonatigen Gefängnisstrafen und ein Artikel im Würzburger General-Anzeiger mit voller Namensnennung.
Fest steht: Der Krieg eröffnet Männern und Frauen die Möglichkeit bzw. schafft die Notwendigkeit, sexuelle Lüste und die Sehnsucht nach Nähe außerhalb des Gewohnten zu erkunden. Überkommene Normen lösen sich zwischen 1914 und 1918 teilweise auf. Im Fall der Soldaten trägt zu dieser Auflösung auch die entmenschlichte Gewalt bei, die sie regelmäßig sehen und die so gar nicht zum Bild vom edlen, beherrschten und moralisch hochstehenden Vaterlandsverteidiger passt.
Der Würzburger Medizinstudent Hans Lewin erlebt im März 1915, wie beim Kampf um Ypern weder auf deutscher noch auf britischer Seite Gefangene gemacht werden: „Auf keiner Seite wird Pardon gegeben“, notiert er. „Die in unsere Hände geraten, werden einfach erschossen oder erschlagen, die Kerls verdienen es nicht besser.
“ Der Rechtsreferendar Hans Baruch, wie Lewin Mitglied der Würzburger Studentenverbindung Salia, sieht im Oktober 1915 auf dem serbischen Kriegsschauplatz „entsetzlich entstellte Serbenleichen, die nur zu deutlich Zeichen wuchtiger Kolbenschläge zeigen“. Die Deutschen haben beschlossen, „möglichst keine Gefangenen zu machen“, schreibt er nach Würzburg.
Wo für jeden sichtbar die bisherigen Moralvorstellungen über den Haufen geworfen werden, ändert sich in manchen Fällen auch das Verhältnis von Männern untereinander. Homosexualität, von Gesetzes wegen verboten, wird immer häufiger eine legitime Variante zwischenmenschlicher Zuneigung.
Im Winter 1917/18 befindet sich Septime Gorceix nach seiner zweiten erfolglosen Flucht in einem Gefangenenlager in Deutsch-Gabel und erlebt die Kameradschaft unter den männlichen Gefangenen, die in trostspendende Liebe übergehen kann. In einem von ihm verfassten Gedicht heißt es: „Oh, wende deine blauen Augen nicht von meinen Augen. Sie tragen eine fremdartige und sehnsüchtige Zärtlichkeit in sich. Deine hübschen Augen haben die Süße von Frauenaugen. Lass ihren Salbei auf die Wunden des Herzens fließen.“
Das ist die eine Seite. Gelegentlich wacht Gorceix inmitten der Nacht auf und hört klagende Ausrufe: „Die Unruhe des Fleisches sucht die dunkle Baracke heim. So viele junge Körper auf einem Haufen! Unbefriedigte Lüste machen sich in lauten Klagen Luft.“ Die meisten widerstehen, schreibt Gorceix. Aber „es gibt Ausnahmen . . . Russen . . . für ein Stück Brot!“.
Das ist die andere Seite. Russische Gefangene, die keine Lebensmittelpakete von zu Hause erhalten, verkaufen nachts ihre Körper, um nicht zu verhungern.
Buch zur Serie: Im März erscheint die Artikelserie zum Ersten Weltkrieg, ergänzt um weitere Texte und Illustrationen, als Main-Post-Buch.