Trotz angespannter Wohnungssituation bleibt der Friedrich-Bergius-Ring in Lengfeld eine denkbar unbeliebte Wohnadresse. Hier wohnt niemand freiwillig, hier befindet sich die Justizvollzugsanstalt (JVA) Würzburg.
Daniela Lissy hat es da besser: Sie darf am Abend die Tür von außen schließen. Lissy ist in der JVA nämlich etwas, woran man zwischen schwedischen Gardinen nicht sofort denkt – sie ist Lehrerin in der Haftanstalt. Studiert hatte sie Grundschullehramt, doch nach ihrer ersten Zeit in einer Zellerauer Grundschule wurde sie auf die Stelle in der JVA aufmerksam und nahm sie an. „Ich habe es nie bereut. Es ist einfach eine neue Herausforderung gewesen“, sagt sie, während die Sonnenstrahlen das Klassenzimmer durch die Gitterstäbe in gesiebtes Licht tauchen.
Sie weiß, dass man Geschehenes nicht rückgängig machen kann. Man kann aber versuchen, die Zukunft der Gefangenen so zu gestalten, dass diese wieder Zugang zur Gesellschaft bekommen. Doch ohne Schulbildung gibt es keinen Job, ohne Job kein geregeltes Leben – in dieser einfachen Formel lässt sich das Schicksal der Entlassenen oft zusammenfassen. Daniela Lissy und ihre drei Kollegen – zwei hauptamtliche Lehrer und ein Beamter aus dem uniformierten Dienst – wollen mit ihrer Arbeit diesen Kreislauf durchbrechen. „Die Gefangenen verlassen das Gefängnis und machen oft dort weiter, wo sie aufgehört haben“, weiß Lissy. „Wer keinen Job findet, hat es meistens besonders schwer, wieder in den Alltag zu finden und sein Leben zu ändern.“
Einer, der diesen unrühmlichen Weg bereits gegangen ist, ist Matthias (Namen aller Gefangenen von der Redaktion geändert). In die Szenerie des Klassenzimmers mag er mit seiner großen und starken Statur, der Glatze und den Tattoos nicht so recht passen. Nach der achten Klasse ist er von der Schule abgegangen, mit einmal Sitzenbleiben hatte er damit die Pflichtzeit voll und startete ohne Abschluss in sein Leben. Dieses führte ihn nicht nur einmal hinter Gitter, seine Karriere bestand größtenteils aus Gefängnisstrafen, Drogensucht und Kriminalität. Nun sitzt er erneut ein. Dieses soll aber das letzte Mal gewesen sein, auch dank Daniela Lissy und ihren Kollegen. „Schule? Daran hab ich vorher niemals gedacht. Aber jetzt bin ich über 30. Da grübelt man doch über seine Zukunft nach.“ Ruhig spricht er, über seine Schullaufbahn und über die Straftaten, die ihn hierher gebracht haben. Das ist der alte Matthias, derjenige, der sich auf die Fingerknöchel die Buchstaben H-A-T-E, also Hass, hat tätowieren lassen. Der neue Matthias, das ist der, der den Hauptschulabschluss mit der Note 1,5 gemacht hat und sich bereits hinter Gittern um eine Möglichkeit kümmerte, nach der Entlassung in fünf Monaten auch noch seinen „Quali“, den qualifizierenden Hauptschulabschluss, dranzuhängen – eine Motivation, die ihm nach seinen vorherigen Haftstrafen meist gefehlt hatte.
Wie bei fast allem im Gefängnis geht auch der Einschulung ein Antrag voraus. So auch bei Matthias. Wird dieser bewilligt, bekommt jeder neue Schüler einen ersten Satz Schulmaterial, alles Folgende muss er sich von seinem eigenen Geld im Gefängnisladen kaufen. Wie in einer „normalen“ Schule heißt es dann pauken, montags bis freitags von 7.45 bis 14.15 Uhr. Deutsch, Mathematik, Geschichte-Sozialkunde-Erdkunde, Sport und Arbeit-Wirtschaft-Technik stehen auf dem Stundenplan. Dabei kommt jedoch nicht jeder Gefangene in den Genuss einer Schulbildung hinter Gittern. „Wir müssen aussieben, allein aufgrund der begrenzten Schulplätze. Dabei überlegen wir uns erst einmal, ob der betroffene Gefangene für unser Bildungsangebot geeignet ist. Eine Mindestlänge der Haftstrafe ist da natürlich auch Voraussetzung - sonst würden einige entlassen werden, noch bevor sie ihren Abschluss nachholen konnten“, bedauert Lissy. Um überhaupt einen Lehrbetrieb in Klassenform organisieren zu können, ist man auf externe und ehrenamtliche Lehrkräfte angewiesen, die eigens in die JVA kommen. Eine Garantie, dass eine Zusage für die Gefangenen dann aber der Startschuss für ein Leben ohne Kriminalität ist, gibt es freilich nicht. Aufgeben ist keine Option für das pädagogische Team der JVA. Es ist eben nicht nur ein Zeugnis, sondern viel mehr, was die Schule zu bieten hat. Es ist Selbstwertgefühl.
Spricht man mit den Schülern, merkt man sofort, welchen Effekt ein gelungener Abschluss auf ihre Psyche hat. So auch auf Bea, verurteilt zu elf Monaten Freiheitsstrafe. „Ich habe endlich einmal etwas geschafft im Leben“ sagt die 24-jährige. Auch sie hat ihren Hauptschulabschluss im Knast nachgeholt, hat immer fleißig ihre „Zellenaufgaben“ gemacht und sich so manches Mal durchbeißen müssen. „Es hat sich gelohnt. Früher hatte ich für nichts Geduld, hätte alles sofort wieder hingeschmissen. Ich weiß nicht, ob ich auch draußen meinen Abschluss gemacht hätte.“ Hier, hinter den dicken Stahltüren, hatte sie aber Zeit zum Nachdenken über ihr Leben, das in der letzten Zeit der Freiheit vor allem von Heroin geprägt war. „Das hat schon viel kaputt gemacht, auch in meinem Kopf.“ Dass sie es dennoch geschafft hat, hat sie nicht zuletzt den Lehrern der JVA zu danken. „Sie haben so viel Geduld mit uns gehabt und sind auf uns eingegangen, wenn wir etwas nicht verstanden haben. So etwas habe ich in meiner richtigen Schulzeit nie erlebt.“
Wenig Aufmerksamkeit, keine Erfolgserlebnisse, falsche Freunde. Die Geschichten der Gefangenen haben erstaunliche Parallelen. Hier jedoch gab es erstmals Erfolge und Förderung. „Auch die Beamtinnen auf der Station haben uns geholfen. Die haben uns zum Beispiel auch mal abgefragt“, pflichtet ihre Mitschülerin Fabienne bei. Ihr hat der erfolgreiche Abschluss etwas zurückgegeben, das ihr in der Haft fehlte: Das Gefühl, Sinnvolles geschafft zu haben. Dabei hatte sie selbst nicht gedacht, jemals noch einmal die Schulbank zu drücken – sie ist 55 Jahre alt. „Ich bin mit über 50 ins Gefängnis gegangen, 17 Monate. Jetzt komme ich mit meinen Hauptschulabschluss wieder raus. Endlich kann ich meiner Enkelin erzählen, dass die Oma auch etwas geschafft hat“, erzählt Fabienne, „in meinem Alter!“.
Überhaupt zeigen die Absolventen der Schulkurse hier oft besonders gute Ergebnisse in ihren Abschlüssen. Das liegt nicht zuletzt aber auch an der Zeit, die sie hinter Gittern haben, um zu lernen. Auch deshalb ist der Schulunterricht in der JVA Würzburg, der erst seit fünf Jahren besteht, eine Erfolgsgeschichte. Der Friedrich-Bergius-Ring ist doch keine Sackgasse. Wegsperren ist die kurz gedachte Lösung. Den Gefangenen eine Möglichkeit zu geben, sich mit ihrer Strafe und ihrem Leben aktiv auseinanderzusetzen, dass die Zeit vor der Haft sich nach der Entlassung nicht wiederholt, eine andere. Wer möchte, dem geben Daniela Lissy und die anderen Lehrer die Chance für einen Neustart. Ob die Absolventen sie nutzen, steht auf einem anderen Blatt. Einen Versuch, so sind sich hier alle sicher, ist es auf jeden Fall wert.
Bildung im Knast
Die JVA Würzburg bietet Inhaftierten neben der Möglichkeit, den Hauptschulabschluss nachzuholen, weitere schulische, berufliche und akademische Bildungsangebote an. Dazu gehören Schulkurse wie Haupt- und Mittelschule, Basisbildungskurse, Deutsch als Fremdsprache, EDV-Kurse, Bewerbungstraining, entlassungsvorbereitende Maßnahmen und allgemeinbildender Unterricht.
Auch Berufsausbildungen zum Koch, Gebäudereiniger, Fachlagerist oder Metallbauer sind möglich. Zudem gibt es eine Umschulungsmaßnahme zur Fachkraft für Lagerlogistik. Im Bereich der schulischen und akademischen Bildung können Häftlinge das Abitur über ein Fernstudium erlangen. Die JVA Würzburg bietet als einzige in Bayern außerdem in einem Pilotprojekt die Möglichkeit, ein akademisches Fernstudium an der Fernuniversität Hagen zu absolvieren.