Tot ist immer gleich tot. Aber Sterben ist nicht gleich sterben. Sterben ist immer anders. Mal langsam und trotzdem friedlich. Zuweilen qualvoll. Selten kurz und schmerzlos. Manchmal freiwillig. Viel zu oft aber auch erzwungen durch ein Verbrechen. Diejenigen, die andere willentlich aus dem Leben katapultieren, landen, hoffentlich, vor Gericht. So wie Marc H., der Mann, der seine Freundin Nadine L. am 8. Oktober 2013 in Würzburg mit Messerstichen und Schlägen mit Bratpfannen ermordet hat.
Nirgendwo sonst als in den Gerichtssälen erfährt man so viel über Fremde. Intimität, Diskretion, Familiarität – das alles gibt es hier nicht. In den Sitzungssälen werden Leben auf links gedreht. Angeklagte können sich davor schützen. Sie müssen nichts sagen, wenn sie das nicht wollen, sie haben ein Schweigerecht und wenn sie es nutzen, darf ihnen das nicht zum Nachteil gereichen. Opfer genießen da weniger Schutz. Und sind sie tot, erzählen andere, was sie von ihnen wissen.
Nadine L. ist tot. Sie wurde ermordet, als sie 30 war. 14 Jahre, nachdem sie ihren Mörder Marc H. kennen gelernt hatte. Er war wohl ihre erste große Liebe. Dass er nicht auch ihre letzte war, hat sie mit dem Leben bezahlt.
Noch lange nicht erwachsen
Damals, als sie aufeinander trafen, war Nadine 16 Jahre alt. Kein Kind mehr, aber auch noch lange nicht erwachsen. Er war schon 25. Groß und schlank und breitschultrig. Ein schöner Mann, einer, um den einen die Mitschülerinnen beneiden. Aber während die anderen Mädels ihre Jugend feierten, ausgingen, sich ver- und wieder ent- und wieder verliebten, blieb Nadine L. bei Marc H.
2014, im Prozess gegen ihn, berichten die, die Nadine L. kannten, aus ihrem Leben. Klein und eng sei es gewesen. Ohne beste Freundin, ohne Partys, ohne Mädelsabende, ohne eigenes Konto. Eifersüchtig habe Marc H. sie bewacht. „Bevor ich mit zu dir komm, komm ich mal lieber zu mir“, singt Karlie Apriori in einem ihrer Lieder. Man wünschte, Nadine L. hätte so gedacht, als dieser Mann ihr über den Weg lief.
Selbstverliebt und egozentrisch
Dass, wie sich in der Verhandlung herausstellt, kaum jemand außer ihr ihn mochte, dass ihre Familie wenig von ihm hielt, dass Arbeitskolleginnen auf eine Trennung hofften, das muss sie gemerkt haben. Auch Marc H.'s vom psychiatrischen Gutachter festgestellten „narzisstischen Züge“, seine Selbstverliebtheit, seine Egozentrik und dass er sie besitzen wollte wie einen Gegenstand, all das kann ihr nicht verborgen geblieben sein. Aber Nadine L. verließ ihn nicht. Zwei Trennungsversuche soll sie gemacht haben. Beide seien so halbherzig wie erfolglos gewesen, heißt es im Gerichtssaal. Der Vorsitzende Richter spricht später von „Hörigkeit“. Nadine L.‘s Mutter sagt, dass Marc H. „den einzigen Menschen getötet habe, der ihn aufrichtig liebte“.
Nadine L. machte eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester, weil sie Kinder mochte und weil sie gerne Menschen half. Marc H. jobbte als Thekenkraft und Modell und huldigte dem Körperkult. Nadine L. habe in der Klinik geduscht, weil ihr Freund „den Krankenhausgeruch nicht mochte“, sagen die Kolleginnen.
Keine Fotos vom Babybauch
Marc H. wollte keine Kinder, aber Nadine L. wurde schwanger. „Überglücklich“ sei sie gewesen, sagt ihre Mutter im Prozess. Aber ihren Babybauch habe sie mit dem Selbstauslöser fotografieren müssen. Ihr Freund habe sich geweigert, sie schwanger abzulichten. Später habe sie mit dem Kind auf einer „alten Matratze im Wohnzimmer“ geschlafen, damit ihr Freund in seinem Wasserbett ungestört war.
Noch vor seinem zweiten Geburtstag wurde Nadine L.‘s Söhnchen schwer krank. Sie pflegte den Kleinen, zog in die Elternwohnung der Klinik, damit sie Tag und Nacht für ihr Kind da sein konnte. Marc H., so Zeugen im Prozess, sei ab und zu vorbei gekommen: „Auf dem Weg ins Fitness-Studio.“ Und er habe sie ein „faules Stück“ genannt, weil sie daheim nicht putzte und die Wäsche liegen blieb. Im Schwurgerichtssaal liegt das Leben dieser Frau auf einem schäbigen Präsentierteller.
Männliche Schulter
Der kleine Junge starb zwei Monate vor seiner Mutter. In dieser schweren Zeit fand Nadine L., man möchte sagen endlich, eine männliche Schulter zum Anlehnen. Sie gehörte einem Jugendfreund, einem, der ganz anders war als Marc H.: Unscheinbar, verständnisvoll und fürsorglich. Die trauernde Mutter verliebte sich, sagte Marc H., dass sie einen Anderen habe, nahm sich eine eigene Wohnung.
Marc H. habe die Trennung nicht ernst genommen, berichten Zeugen. Dieser Beau habe sich gar nicht vorstellen können, dass seine Freundin ihm wegen eines „Durchschnittsmannes“ den Laufpass gibt. Aber irgendwann muss er wohl gemerkt haben, dass er Nadine L. verloren hat.
„Panische Hilferufe“
Am 8. Oktober 2013 kam sie noch mal in die ehemals gemeinsame Wohnung, um etwas zu holen. Gegen 12.30 Uhr hörten Nachbarn „panische Hilferufe“, die Worte „Nein, Marc, nein“ und alarmierten die Polizei. Bevor die Streifenwagen eintrafen, wurde es ganz still hinter der Tür. Dann trat Marc H. heraus. Er trug nur einen Pulli und einen Slip. Und er blutete. „Wir sind überfallen worden“, habe er gesagt, erzählt eine Zeugin, „jemand hatte sich hinter der Tür versteckt“.
Die Wohnung war voller Blut. Nadine L. starb in der Küche, neben ihr lagen zwei abgebrochene Messer. Marc H. berichtete einer Polizistin, er sei niedergestochen worden. Die Ermittler fanden seine blutverschmierte Jeans, aber keine fremde DNA. Rechtsmediziner stellten fest, dass er sich seine Verletzungen selbst beigebracht hatte und dass die Hose während der Tat getragen worden war. Am 10. Oktober 2013, zwei Tage nach der Tat, erging Haftbefehl gegen Marc H.
Während das Leben von Nadine L. im Prozess entrollt wird wie eine schaurige Fototapete, während Gericht und Staatsanwalt und Zuhörer Dinge von ihr erfahren, die sie, hätte sie es entscheiden können, vermutlich lieber für sich behalten hätte, gibt Marc H. kaum was von sich preis: Ordentliches Elternhaus, Verkäuferausbildung, Kraftsport und Jogging als Hobbys. Über die Tat schweigt er.
Schwierige Verteidigung
Es ist nicht einfach, einen Menschen wie Marc H. zu verteidigen. Seine Anwälte tun, was die Aufgabe von Anwälten ist: Sie legen sich ins Zeug für ihn. Kritisieren die Ermittlungen als „einseitig“. Mutmaßen, dass der These vom Überfall eines Unbekannten nicht wirklich nachgegangen worden sei. Geben zu bedenken, dass Marc H. nichts dafür könne, dass er so ist, wie er ist. Und dann sagen sie, dass ja nicht jeder selbstverliebte, egozentrische Unsympath „auch ein Mörder“ sein müsse.
Aber Marc H. ist ein Mörder. Die Strafkammer ist überzeugt, dass er Nadine L. aus Missgunst und verletzter Eitelkeit mit Messerstichen und Schlägen mit zwei Bratpfannen getötet hat. Das Urteil, im November 2014 im Namen des Volkes gesprochen, lautet auf lebenslange Haft.
An Nadine L.‘s fünftem Todestag hat ihre Mutter eine Zeitungsanzeige mit einem Foto veröffentlicht: „5 Jahre seid ihr auf eurer langen Reise, meine wunderbare Tochter und mein wunderbarer Enkel.“ Auf dem Bild sieht Nadine L. aus, als sei sie in diesem Moment glücklich gewesen.