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WÜRZBURG
Können Kinderdemenz-Forscher auch anderen Patienten helfen?
Neurobiologie: Professor Rudolf Martini untersucht mit seinem Team die Entzündungsprozesse bei seltenen Erkrankungen des Nervensystems. Seine Erkenntnisse zur Kinderdemenz lassen aufmerken. Sie könnten auch anderen Patienten nützen.
Professor Rudolf Martiniam Elektronen-Mikroskop.Fotos: Patty Varasano
Foto: Patty Varasano | Professor Rudolf Martiniam Elektronen-Mikroskop.Fotos: Patty Varasano
Folker Quack
 |  aktualisiert: 03.12.2019 10:02 Uhr

Demenz ist keine reine Alterskrankheit – auch Kinder und Jugendliche können davon betroffen sein. Der Würzburger Professor Rudolf Martini sieht gute Chancen, mit etablierten Medikamenten gegen Kinderdemenz vorzugehen. Der Nachweis gelang seiner Forschergruppe an einem Mausmodell, darum sprechen wir auch über Sinn und Notwendigkeit von Tierversuchen.

Frage: Sie haben nach ihrem Biologie-Studium über das Riechsinnesorgan der Wespen promoviert. Wie kommt man von der Wespennase zu chronischen Entzündungsprozessen im menschlichen Körper, die Sie aktuell erforschen?

Rudolf Martini: Das hängt mit meiner Lebensgeschichte zusammen. Ich bin von Haus aus Zoologe und habe mich sehr für Insekten interessiert. Dann haben mich auch bei den Wespen vor allem die Entwicklungsprozesse des Nervensystems fasziniert. Generell kann man von Entwicklungsprozessen zu Krankheitsprozessen kommen. So landete ich über die Maus als Tiermodell bei Krankheitsprozessen des Menschen. Dann ist der Weg zu den Therapiemöglichkeiten naheliegend.

Sie haben sich große Verdienste in der Forschung an Multipler Sklerose erworben. Was haben Sie Neues entdeckt?

Martini: Es war wohl ein wissenschaftliches Querdenken, für das ich 2010 den Sobek-Preis erhielt. Die Multiple Sklerose ist eine entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Man geht meist davon aus, zuerst ist die Entzündung da, die die Schutzhüllen der Nervenfasern schädigt. Unsere Hypothese war, es könnte auch genau anders herum sein. Wir haben zuerst geschädigte Schutzhüllen, zum Beispiel durch einen Gendefekt. Und die lösen einen Entzündungsprozess aus, der dann weitere Schäden verursacht.

Gibt es ähnliche Prozesse auch bei anderen Krankheiten?

Martini: Ja, das lässt sich auf andere Krankheiten übertragen. Insbesondere Krankheiten, die auf einem Gendefekt beruhen. Wir haben zunächst den Schaden, dadurch geraten die Zellen unter Stress, alarmieren das Immunsystem und dessen Reaktion ist ein Entzündungsprozess. Und dadurch kommt es bei manchen Erkrankungen zu einer Vergrößerung des primären Schadens.

Vergleichbar mit dem Fieber, das ich bekomme, wenn ich Grippe habe?

Martini: Nur dass Sie dann ja einen äußeren Erreger haben, der bekämpft werden soll. Der Grund für Entzündungsprozess kann aber auch von „innen“ kommen, sozusagen unter sterilen Bedingungen, wobei das Immunsystem dann manchmal die kranken Zellen schädigt.

Was bedeutet das für die Therapie?

Martini: Wenn wir den Entzündungsprozess ausschalten können, haben die Zellen zwar immer noch den Stress, zum Beispiel eine Stoffwechselstörung, aber sie werden nicht zusätzlich durch die Entzündung belastet; es geht ihnen besser.

Schlagzeilen haben Sie zuletzt mit ihren Forschungen zur Kinderdemenz gemacht. Sie haben herausgefunden, dass Medikamente, die bei Multipler Sklerose helfen, auch bei Kinderdemenz wirken könnten. Wie sind sie ausgerechnet auf diese seltene Krankheit gekommen?

Martini: Es ist in der Tat eine – Gott sei Dank – seltene Krankheit und wenig beforscht. Man spricht von circa 700 Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Es war in diesem Fall schlicht eine Anfrage. Es gibt die NCL-Stiftung in Hamburg, die der Vater eines Patienten gegründet hat.

Da auch hier Entzündungen im Gehirn eine Rolle spielen und wir offenbar den Ruf haben, uns damit auszukennen, bekamen wir eine Anfrage und haben erst mal recherchiert, „was ist das überhaupt, die Neuronale Ceroid Lipofuszinose“, so der Fachbegriff für Kinderdemenz. Wir haben dann die Krankheit sozusagen „adoptiert“ und vergleichend zu unseren anderen Forschungen übernommen.

Nun kennt man Demenz bei alten Menschen, wie kann es schon bei Kindern dazu kommen?

Martini: Mit dem Wort wird eine sehr komplizierte Stoffwechsel-Krankheit leicht verständlich beschrieben. Die „Kinderdemenz“ ist bei der Neuronalen Ceroid Lipofuszinose leider nur eines von vielen schrecklichen Symptomen. Die Erkrankung der häufigsten Form beginnt meistens so mit sechs, sieben Jahren mit Sehstörungen, die innerhalb weniger Jahre zur Blindheit führen. Flankiert von epileptischen Anfällen und motorischen Störungen, die alle sehr schwer zu bändigen sind. Damit geht eingeschränkte Lernfähigkeit und Demenz einher, außerdem Schluckbeschwerden in späten Phasen. Die Patienten sterben in der Regel in den 20er Jahren.

Kann Ihre Forschung diese Situation verbessern?

Martini: Wir wissen, dass das Immunsystem und die Entzündungen eine treibende Rolle bei der Krankheit spielen; eine teilweise Parallele zur Multiplen Sklerose. Dort gibt es bereits klinisch erprobte Medikamente. Basierend auf unseren Experimenten könnte man überlegen, die Kinderdemenz mit denselben Medikamenten zu behandeln. Allerdings steckt das alles noch im Stadium des Mausmodells. Dort hat es beeindruckende Erfolge gegeben. Wir können die genetischen Ursachen der Krankheit nicht beseitigen, aber den Verlauf positiv beeinflussen. Zumindest bei den Mäusen hat das beeindruckend gut funktioniert.

Was bedeutet das konkret für Kinder?

Martini: Die Multiple-Sklerose-Medikamente könnten jetzt nach sorgfältiger Abwägung des behandelnden Arztes und nach umfangreicher Aufklärung der Eltern legitim für individuelle Heilversuche eingesetzt werden. Mit der Gabe könnte in einem frühen Stadium die Erblindung verzögert werden, motorische Verbesserungen könnten möglich sein. Auch die epileptischen Anfälle könnten positiv beeinflusst werden. Bei den Mäusen haben wir diese klinischen Effekte gesehen.Wichtig ist, wir können die Krankheit nicht heilen, aber wir könnten eine Zeit lang die Lebensqualität für die Patienten und deren Eltern erhöhen.

Sind Nebenwirkungen bekannt?

Martini: Da die Medikamente das Immunsystem beeinflussen, kann eine größere Anfälligkeit für Infektionskrankheiten entstehen. Darum muss im Einzelfall entschieden werden, ob die Behandlung überhaupt in Frage kommt und wie die Patienten sich davor schützen können.

Wäre auch die die klassische Altersdemenz mit denselben Methoden behandelbar?

Martini: Entzündungsprozesse spielen auch bei der Altersdemenz durchaus eine Rolle. Doch die Sachverhalte sind sehr kompliziert: hinsichtlich Entzündung haben wir es mit einem Janusgesicht zu tun. Man weiß, dass Entzündungszellen im Gehirn schädlich geglaubte Ablagerungen, die sogenannten Alzheimer-Plaques, teilweise auflösen können. Entzündungszellen können aber auch schädliche Stoffe für das Nervensystem generieren. Darum müssen Forscher in Sachen Therapie-Ansätze noch sehr zurückhaltend sein und die Forschung weiter vorantreiben.

Es gibt viele Erbkrankheiten bei Kindern. Oft ist das Gehirn betroffen, es kommt zu Entzündungsprozessen und einer Degeneration des Nervensystems. Könnte man hier auch helfen?

Martini: Wir haben uns verschiedene Modelle auch von anderen Erkrankungen des Nervensystems angeschaut. Da sehen wir oft auch Entzündungsprozesse. Man muss in jedem Einzelfall testen, ob die Entzündungszelle auch wirklich was Böses macht. Bisher war es meist so.

Pharmaindustrie und Forschung haben wenig Interesse an seltenen Krankheiten, weil die Zahl der Patienten zu gering ist. Was bringt einen Wissenschaftler dazu, dennoch an seltenen Krankheiten zu forschen?

Martini: Es wäre zu einfach zu sagen, nur weil die pharmazeutische Industrie kein Interesse hat, passiert nichts. Natürlich gibt es ökonomische Interessen und generell sind die Firmen bei der Finanzierung klinischer Studien zurückhaltend. Aber es gibt auch Unterstützung unserer Arbeiten durch die Industrie. Ganz wichtig sind Stiftungen, wie die NCL-Stiftung, die Gelder zur Anschubfinanzierung bereitstellen. Schlimm ist, dass innerhalb der Wissenschaft das Interesse an seltenen Erkrankungen mager ist. Zu mir sagte mal ein Kollege, das wäre verschwendete Zeit, weil es umfassendere Probleme gibt.

Ich halte das nicht nur für unmenschlich, sondern auch wissenschaftlich für zu kurz gedacht. Denn wir können aus diesen Krankheiten Mechanismen lernen, die auf die häufigen übertragbar sind. Die seltenen sind meist genetisch bedingt, was Versuche viel leichter möglich macht als bei komplexen Krankheitsmodellen. Da liegt eine Chance für die seltenen.

Viele Ihrer Forschungen beruhen auf Mausmodellen. Das klingt schön, aber es sind Tierversuche. Geht es ohne die Mäuse nicht, gäbe es ohne diese Versuche keinen medizinischen Fortschritt?

Martini: Ich würde das in dieser Deutlichkeit so sagen. Aber es fehlt an breiter Aufklärung und es herrscht leider oft eine breite Kluft zwischen „über Tierversuche reden“ und „etwas davon verstehen“. Leider benutzen die Gegner oft schlimme Bilder ohne Quellenangaben, wo Katzen oder Affen Drähte im Kopf haben und sie einen gequälten und desolaten Zustand zeigen. Heute und in Deutschland sehen Tierversuche ganz anders aus. Dass einem Tierversuch ein sehr aufwendiger und mehrfach begutachteter und kontrollierter Antragsprozess vorausgeht, flankiert von Berichten, zahlreichen rechtlichen Auflagen und Begehungen, wissen viele nicht.

Besonderes Augenmerk wird nicht nur auf unbedingte Notwendigkeit und Ethik gerichtet, sondern auf artgerechte Haltung und minimalisiertes Leiden. Diese Auflagen sind sogar oft im Sinne der Wissenschaft, denn ein leidendes und nicht artgerecht gehaltenes Tier ist für den Experimentator wertlos. Die Forschungseinrichtungen sollten stärker und offensiv an die Öffentlichkeit gehen, um endlich einen richtigen Eindruck von professioneller biomedizinischer Forschung zu vermitteln. Es wird dann auch klar werden, dass allzu großer Druck gegen Tierversuche generell fatale Folgen für den Tierschutz hätte, so paradox es klingen mag. Es würde dazu führen, dass Experimente in Länder abwandern, in denen der Tierschutz nicht so sorgfältig und verantwortungsvoll geregelt ist, wie bei uns. Solche Strömungen gibt es bereits. Man tut dadurch den Versuchstieren wie auch der Qualität der Wissenschaft nichts Gutes . . .

Haben diese Versuche Grenzen, etwa dass eine Therapie zwar bei der Maus funktioniert, beim Menschen aber nicht?

Martini: Es ist die strenge Pflicht des Wissenschaftlers, dies immer wieder selbstkritisch auszuloten, wie wir das etwa in Zusammenarbeit mit humanen Gewebebanken machen. Aber was ist generell unsere Alternative? Wir können im Reagenzglas Prozesse simulieren und überprüfen. Dazu isolieren wir Zellen oder Gewebe von einem intakten Organismus. Die überleben in einem Nährmedium, entfremden sich aber zunehmend von ihrem typischen charakteristischen und differenzierten Zustand. Man kann da trotzdem für eine Anfangshypothese wichtige Erkenntnisse gewinnen. Das wird auch in den allermeisten Fällen der erste Schritt sein. Es muss aber auch klar sein, dass solch ein In-vitro-Experiment vom Menschen viel weiter entfernt ist, als das Tiermodell, bei dem das Zusammenspiel von Geweben und Organen intakt vorliegt. Deshalb braucht man beide. Und wenn es um neue Therapien geht, wäre das Auslassen des Tiermodelles unverantwortlich. Hypothetisches Beispiel: Man findet einen chemischen Wirkstoff, der Entzündungszellen im Reagenzglas gut in Schranken hält, aber gleichzeitig hochgradig lebertoxisch ist.

Professor Rudolf Martini

Der Wissenschaftler leitet die Arbeitsgruppe Experimentelle Entwicklungsneurobiologie am Uniklinikum Würzburg. Der 61-jährige gebürtige Karlsruher ist von Haus aus Biologe, hat in Zoologie promoviert und erforscht seit 1996 an der Neurologischen Uniklinik die Zusammenhänge von genetischen Schäden und chronischen Entzündungen im Nervensystem. Ein Phänomen, das besonders bei Multipler Sklerose, aber auch bei anderen, meist seltenen Krankheiten auftritt. Für seine Erkenntnisse erhielt Martini mit einer französischen Kollegin2010 den europäischen Sobek-Forschungspreis, mit 100 000 Euro der am höchsten dotierte Multiple-Sklerose-Preis. Aktuell sorgen seine Behandlungsoptionen für die sogenannte Kinderdemenz für Schlagzeilen.
Professor Rudolf Martini mit Dr. Janos Groh haben entdeckt, dass Kinderdemenz durch schleichende Entzündungen im Gehirn verstärkt wird. Nun fanden sie eine mögliche Therapie – mit bekannten Medikamenten.
Foto: Patty Varasano | Professor Rudolf Martini mit Dr. Janos Groh haben entdeckt, dass Kinderdemenz durch schleichende Entzündungen im Gehirn verstärkt wird. Nun fanden sie eine mögliche Therapie – mit bekannten Medikamenten.
 
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