Demenz ist keine reine Alterskrankheit – auch Kinder und Jugendliche können davon betroffen sein. Der Würzburger Professor Rudolf Martini sieht gute Chancen, mit etablierten Medikamenten gegen Kinderdemenz vorzugehen. Der Nachweis gelang seiner Forschergruppe an einem Mausmodell, darum sprechen wir auch über Sinn und Notwendigkeit von Tierversuchen.
Rudolf Martini: Das hängt mit meiner Lebensgeschichte zusammen. Ich bin von Haus aus Zoologe und habe mich sehr für Insekten interessiert. Dann haben mich auch bei den Wespen vor allem die Entwicklungsprozesse des Nervensystems fasziniert. Generell kann man von Entwicklungsprozessen zu Krankheitsprozessen kommen. So landete ich über die Maus als Tiermodell bei Krankheitsprozessen des Menschen. Dann ist der Weg zu den Therapiemöglichkeiten naheliegend.
Martini: Es war wohl ein wissenschaftliches Querdenken, für das ich 2010 den Sobek-Preis erhielt. Die Multiple Sklerose ist eine entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Man geht meist davon aus, zuerst ist die Entzündung da, die die Schutzhüllen der Nervenfasern schädigt. Unsere Hypothese war, es könnte auch genau anders herum sein. Wir haben zuerst geschädigte Schutzhüllen, zum Beispiel durch einen Gendefekt. Und die lösen einen Entzündungsprozess aus, der dann weitere Schäden verursacht.
Martini: Ja, das lässt sich auf andere Krankheiten übertragen. Insbesondere Krankheiten, die auf einem Gendefekt beruhen. Wir haben zunächst den Schaden, dadurch geraten die Zellen unter Stress, alarmieren das Immunsystem und dessen Reaktion ist ein Entzündungsprozess. Und dadurch kommt es bei manchen Erkrankungen zu einer Vergrößerung des primären Schadens.
Martini: Nur dass Sie dann ja einen äußeren Erreger haben, der bekämpft werden soll. Der Grund für Entzündungsprozess kann aber auch von „innen“ kommen, sozusagen unter sterilen Bedingungen, wobei das Immunsystem dann manchmal die kranken Zellen schädigt.
Martini: Wenn wir den Entzündungsprozess ausschalten können, haben die Zellen zwar immer noch den Stress, zum Beispiel eine Stoffwechselstörung, aber sie werden nicht zusätzlich durch die Entzündung belastet; es geht ihnen besser.
Martini: Es ist in der Tat eine – Gott sei Dank – seltene Krankheit und wenig beforscht. Man spricht von circa 700 Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Es war in diesem Fall schlicht eine Anfrage. Es gibt die NCL-Stiftung in Hamburg, die der Vater eines Patienten gegründet hat.
Da auch hier Entzündungen im Gehirn eine Rolle spielen und wir offenbar den Ruf haben, uns damit auszukennen, bekamen wir eine Anfrage und haben erst mal recherchiert, „was ist das überhaupt, die Neuronale Ceroid Lipofuszinose“, so der Fachbegriff für Kinderdemenz. Wir haben dann die Krankheit sozusagen „adoptiert“ und vergleichend zu unseren anderen Forschungen übernommen.
Martini: Mit dem Wort wird eine sehr komplizierte Stoffwechsel-Krankheit leicht verständlich beschrieben. Die „Kinderdemenz“ ist bei der Neuronalen Ceroid Lipofuszinose leider nur eines von vielen schrecklichen Symptomen. Die Erkrankung der häufigsten Form beginnt meistens so mit sechs, sieben Jahren mit Sehstörungen, die innerhalb weniger Jahre zur Blindheit führen. Flankiert von epileptischen Anfällen und motorischen Störungen, die alle sehr schwer zu bändigen sind. Damit geht eingeschränkte Lernfähigkeit und Demenz einher, außerdem Schluckbeschwerden in späten Phasen. Die Patienten sterben in der Regel in den 20er Jahren.
Martini: Wir wissen, dass das Immunsystem und die Entzündungen eine treibende Rolle bei der Krankheit spielen; eine teilweise Parallele zur Multiplen Sklerose. Dort gibt es bereits klinisch erprobte Medikamente. Basierend auf unseren Experimenten könnte man überlegen, die Kinderdemenz mit denselben Medikamenten zu behandeln. Allerdings steckt das alles noch im Stadium des Mausmodells. Dort hat es beeindruckende Erfolge gegeben. Wir können die genetischen Ursachen der Krankheit nicht beseitigen, aber den Verlauf positiv beeinflussen. Zumindest bei den Mäusen hat das beeindruckend gut funktioniert.
Martini: Die Multiple-Sklerose-Medikamente könnten jetzt nach sorgfältiger Abwägung des behandelnden Arztes und nach umfangreicher Aufklärung der Eltern legitim für individuelle Heilversuche eingesetzt werden. Mit der Gabe könnte in einem frühen Stadium die Erblindung verzögert werden, motorische Verbesserungen könnten möglich sein. Auch die epileptischen Anfälle könnten positiv beeinflusst werden. Bei den Mäusen haben wir diese klinischen Effekte gesehen.Wichtig ist, wir können die Krankheit nicht heilen, aber wir könnten eine Zeit lang die Lebensqualität für die Patienten und deren Eltern erhöhen.
Martini: Da die Medikamente das Immunsystem beeinflussen, kann eine größere Anfälligkeit für Infektionskrankheiten entstehen. Darum muss im Einzelfall entschieden werden, ob die Behandlung überhaupt in Frage kommt und wie die Patienten sich davor schützen können.
Martini: Entzündungsprozesse spielen auch bei der Altersdemenz durchaus eine Rolle. Doch die Sachverhalte sind sehr kompliziert: hinsichtlich Entzündung haben wir es mit einem Janusgesicht zu tun. Man weiß, dass Entzündungszellen im Gehirn schädlich geglaubte Ablagerungen, die sogenannten Alzheimer-Plaques, teilweise auflösen können. Entzündungszellen können aber auch schädliche Stoffe für das Nervensystem generieren. Darum müssen Forscher in Sachen Therapie-Ansätze noch sehr zurückhaltend sein und die Forschung weiter vorantreiben.
Martini: Wir haben uns verschiedene Modelle auch von anderen Erkrankungen des Nervensystems angeschaut. Da sehen wir oft auch Entzündungsprozesse. Man muss in jedem Einzelfall testen, ob die Entzündungszelle auch wirklich was Böses macht. Bisher war es meist so.
Martini: Es wäre zu einfach zu sagen, nur weil die pharmazeutische Industrie kein Interesse hat, passiert nichts. Natürlich gibt es ökonomische Interessen und generell sind die Firmen bei der Finanzierung klinischer Studien zurückhaltend. Aber es gibt auch Unterstützung unserer Arbeiten durch die Industrie. Ganz wichtig sind Stiftungen, wie die NCL-Stiftung, die Gelder zur Anschubfinanzierung bereitstellen. Schlimm ist, dass innerhalb der Wissenschaft das Interesse an seltenen Erkrankungen mager ist. Zu mir sagte mal ein Kollege, das wäre verschwendete Zeit, weil es umfassendere Probleme gibt.
Ich halte das nicht nur für unmenschlich, sondern auch wissenschaftlich für zu kurz gedacht. Denn wir können aus diesen Krankheiten Mechanismen lernen, die auf die häufigen übertragbar sind. Die seltenen sind meist genetisch bedingt, was Versuche viel leichter möglich macht als bei komplexen Krankheitsmodellen. Da liegt eine Chance für die seltenen.
Martini: Ich würde das in dieser Deutlichkeit so sagen. Aber es fehlt an breiter Aufklärung und es herrscht leider oft eine breite Kluft zwischen „über Tierversuche reden“ und „etwas davon verstehen“. Leider benutzen die Gegner oft schlimme Bilder ohne Quellenangaben, wo Katzen oder Affen Drähte im Kopf haben und sie einen gequälten und desolaten Zustand zeigen. Heute und in Deutschland sehen Tierversuche ganz anders aus. Dass einem Tierversuch ein sehr aufwendiger und mehrfach begutachteter und kontrollierter Antragsprozess vorausgeht, flankiert von Berichten, zahlreichen rechtlichen Auflagen und Begehungen, wissen viele nicht.
Besonderes Augenmerk wird nicht nur auf unbedingte Notwendigkeit und Ethik gerichtet, sondern auf artgerechte Haltung und minimalisiertes Leiden. Diese Auflagen sind sogar oft im Sinne der Wissenschaft, denn ein leidendes und nicht artgerecht gehaltenes Tier ist für den Experimentator wertlos. Die Forschungseinrichtungen sollten stärker und offensiv an die Öffentlichkeit gehen, um endlich einen richtigen Eindruck von professioneller biomedizinischer Forschung zu vermitteln. Es wird dann auch klar werden, dass allzu großer Druck gegen Tierversuche generell fatale Folgen für den Tierschutz hätte, so paradox es klingen mag. Es würde dazu führen, dass Experimente in Länder abwandern, in denen der Tierschutz nicht so sorgfältig und verantwortungsvoll geregelt ist, wie bei uns. Solche Strömungen gibt es bereits. Man tut dadurch den Versuchstieren wie auch der Qualität der Wissenschaft nichts Gutes . . .
Martini: Es ist die strenge Pflicht des Wissenschaftlers, dies immer wieder selbstkritisch auszuloten, wie wir das etwa in Zusammenarbeit mit humanen Gewebebanken machen. Aber was ist generell unsere Alternative? Wir können im Reagenzglas Prozesse simulieren und überprüfen. Dazu isolieren wir Zellen oder Gewebe von einem intakten Organismus. Die überleben in einem Nährmedium, entfremden sich aber zunehmend von ihrem typischen charakteristischen und differenzierten Zustand. Man kann da trotzdem für eine Anfangshypothese wichtige Erkenntnisse gewinnen. Das wird auch in den allermeisten Fällen der erste Schritt sein. Es muss aber auch klar sein, dass solch ein In-vitro-Experiment vom Menschen viel weiter entfernt ist, als das Tiermodell, bei dem das Zusammenspiel von Geweben und Organen intakt vorliegt. Deshalb braucht man beide. Und wenn es um neue Therapien geht, wäre das Auslassen des Tiermodelles unverantwortlich. Hypothetisches Beispiel: Man findet einen chemischen Wirkstoff, der Entzündungszellen im Reagenzglas gut in Schranken hält, aber gleichzeitig hochgradig lebertoxisch ist.