„Würzburg ist meine Heimat!“ Wenn eine heute 82-jährige US-Amerikanerin, die im sonnigen Florida ihren Lebensabend verbringt, solch einen Satz sagt, mag das verwundern. Noch überraschender klingt diese Aussage, wenn man weiß, dass sie als Jugendliche gerade einmal vier Jahre in Würzburg gelebt hat – von 1950 bis 1954, in einer Zeit also, in der die Stadt noch in weiten Teilen zerstört war und sich mühsam vom Schatten der NS-Zeit zu befreien suchte.
Erste Bewohner im Leighton Areal
Elizabeth Thomas war 14 Jahre alt, als sie mit ihren Eltern nach Würzburg kam. Ihr Vater, Stabsoffizier bei der US Army, war in die unterfränkische Stadt versetzt worden, wo die 1. US-Infanteriedivision, die sogenannte „Big Red One“, ihr Hauptquartier bezogen hatte, berichtet „einBLICK“, das Online-Magazin der Universität Würzburg. Die ersten drei Jahre wohnte die Familie in einem Privathaus im Grasweg im Frauenland, bevor sie Anfang der 50er-Jahre als eine der ersten Anwohner in die neu gebauten Apartment-Häuser der Amerikaner auf dem Leighton-Areal umziehen konnte.
Eine schöne Zeit seien die Jahre in Würzburg gewesen, erinnert sich Elizabeth Thomas heute. Natürlich habe auch sie wahrgenommen, dass zumindest in den ersten Jahren die Not unter der deutschen Bevölkerung groß war und die Schaufenster in den Läden leer. Angehörige des US-Militärs litten selbstverständlich nicht unter diesem Mangel; sie wurden schließlich aus der Heimat reichlich versorgt. Dennoch erinnert sich Thomas an Ausflüge mit ihrer Mutter in die Stadt, wo sie bei Kaufhof einkaufen gingen, als sich nach der Währungsreform die Lager wieder gefüllt hatten.
Jugendtreff am Letzten Hieb
Von einem deutsch-amerikanischen Treff – heute würde man von einem Club sprechen – erzählt die 82-Jährige. Der habe sich am „Letzten Hieb“ befunden, also an der Grenze von Stadt und dem neuen Kasernengelände, und sei dank Musik und Tanz Anziehungspunkt für viele Jugendlichen gewesen. An Ausflüge mit dem Bus in ein Freibad nur für Amerikaner erinnert sie sich und natürlich an den Schulbesuch in Nürnberg.
Zwar hatte schon Anfang September 1951 die neue Elementary School am Hubland ihre Tore geöffnet, laut Main-Post damals die modernste Schule Unterfrankens. Dafür war Elizabeth Thomas allerdings schon zu alt. Weil der erste Spatenstich für die High School erst am 20. Januar 1955 erfolgte, musste Elizabeth, wie viele andere Jugendliche aus der Region auch, die High School in Nürnberg besuchen, wo sie, außer an den Wochenenden, in einem Internat untergebracht war.
Viele Reisen hat die Familie in dieser Zeit mit ihrem eigenen Pkw – selbstverständlich einem großen US-amerikanischen Straßenkreuzer – unternommen. Davon zeugen die zahlreichen Erinnerungsstücke, die noch heute in Betty Thomas‘ Haus in Florida stehen; davon zeugen aber auch die vielen Schwarzweißfotos, die sie in Fotoalben bis heute sorgfältig aufbewahrt. Aufnahmen aus Paris sind dort zu sehen, aber auch Bilder vom Kreuzberg – natürlich mit dem dazugehörigen Bierkrug.
Amerikanische Schulen in Deutschland
Für diese Fotos – samt der dazugehörigen Erinnerungen an die Zeit in Würzburg – interessiert sich Dr. Simone Gutwerk. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pädagogik der Julius-Maximilians-Universität (JMU) und leitet dort das Praktikumsamt für angehende Lehrkräfte. In ihrer Doktorarbeit, die sie 2013 fertiggestellt hat, hat Gutwerk die Geschichte von Schulen für die Kinder US-amerikanischer Militärangehöriger in Deutschland erforscht – und damit natürlich auch die Geschichte der drei Schulen auf dem Leighton Areal: der 1951 fertiggestellten Elementary School, der zu Beginn des Schuljahrs 1955/56 in Betrieb genommenen High School sowie der erst 1990 bezogenen Middle School.
„Mich interessiert die persönliche Geschichte von Kindern und Jugendlichen der US-amerikanischen Streitkräfte, die in den 1950er-Jahren in Deutschland gelebt haben“, erklärt Simone Gutwerk auf die Frage, wieso sie auch nach der Fertigstellung ihrer Doktorarbeit das Thema nicht loslässt. Wie erleben Heranwachsende das Land, das eben noch der Feind war, den es zu bekämpfen galt? Wie haben sie Not und Elend der ersten Jahre wahrgenommen? Wie haben sie sich mit der Situation angefreundet, dass sich das Leben in Deutschland schnell wieder „normalisiert“ hat und der wirtschaftliche Aufschwung zu Wohlstand und einem stetig steigenden Lebensstandard führte? Diese – und mehr – Fragen treiben die Schulpädagogin um.
Kontakt zu ehemaligen Schülerinnen
Antworten auf ihre Fragen findet Simone Gutwerk in den Interviews, die sie mit den damals Jugendlichen und heute weit über 80-Jährigen führt. „Betty Thomas habe ich während der Arbeit an meiner Dissertation kennen gelernt“, sagt sie. 2007 haben sich die beiden das erste Mal getroffen, als Thomas für einen letzten Besuch nach Würzburg gereist war; 2013 gab es ein Wiedersehen, als Simone Gutwerk für einen Vortrag nach Florida geflogen war. Seitdem haben sie regelmäßig Kontakt per E-Mail und Post gehalten.
Anfang 2018 fand das bislang dritte Treffen statt. „Betty Thomas hatte mich eingeladen, um mir all ihre Erinnerungsstücke zu zeigen“, erzählt Simone Gutwerk. Dahinter habe wohl auch der Wunsch gestanden, eine Lösung zu finden, wie diese persönlichen Zeugnisse archiviert und möglicherweise der Nachwelt präsentiert werden können. Dieses Wissen zu konservieren, beziehungsweise eine Möglichkeit dafür zu finden, ist jetzt eine Aufgabe, um die sich die Würzburger Schulpädagogin kümmert.
Hoffen auf eine Art Museum
Erste Erfolge gibt es bereits: Simone Gutwerk hat Kontakt mit Wayne Riggs aufgenommen, einem Professor für Geschichte am Flagler College in St. Augustine, Florida. Mit seiner Hilfe hofft sie, die Erinnerungen der ehemaligen Schülerinnen und Schüler an amerikanischen Schulen in Deutschland in einer Art „Oral-History-Projekt“ sammeln und archivieren zu können.
Aber auch in Würzburg möchte Gutwerk die Erinnerung an diese Zeit wachhalten. Dafür strebt sie die Zusammenarbeit mit Professor Helmut Flachenecker an, dem Inhaber für fränkische Landesgeschichte an der JMU. Flachenecker plant schon seit Längerem die Gründung eines Museums mit angegliederter Forschungsstelle, das der deutsch-amerikanischen Geschichte in Würzburg gewidmet ist. Im Fokus sollen dort die über Jahrzehnte gewachsenen sozialen Beziehungen zwischen der Würzburger Bevölkerung und den in der Stadt seit 1945 präsenten Amerikanern stehen. Dafür kooperiert Flachenecker ebenfalls mit Wayne Riggs.
Eine Art „Schub“ für ihr Projekt erhofft sich Simone Gutwerk durch die Landesgartenschau, die in den kommenden Monaten auf einem Teil des ehemaligen Kasernengeländes der Amerikaner zu sehen ist.
Schließlich sei mit der Schau und der gleichzeitigen Entwicklung eines neuen Stadtteils in Würzburg das Interesse an der Geschichte dieses geschichtsträchtigen Orts wiedererwacht. Vielleicht führt das ja dazu, dass in absehbarer Zeit die Erinnerungsstücke von Betty Thomas an ihren Ursprungsort zurückkehren können.