Zwölf der 14 Achttausender hat Extrembergsteiger Hans Kammerlander bestiegen. Dem Wettlauf auf den Berg hat der 60-Jährige inzwischen den Rücken gekehrt. Ihm geht es jetzt vielmehr darum, das Ganze in seiner Schönheit zu betrachten. Am Sonntag ist Hans Kammerlander in Würzburg. Wir haben im Vorfeld mit ihm gesprochen.
Frage: Worin liegt die besondere Ästhetik des Matterhorns?
Kammerlander: Es ist die Form. Es steht nicht mitten unter anderen Gipfeln, sondern liegt ganz dominant alleine da mit einer außergewöhnlich kühnen Form. Das Matterhorn ist sicher das liebste Fotomotiv aller Berge weltweit.
Immer schneller, immer höher, immer extremer – dieses Lebensmotto gilt für Sie mittlerweile nicht mehr?
Kammerlander: Ich habe 25 Jahre lang den Wettlauf um die hohen Berge der Welt, um die Erstbegehungen und Skiabfahrten mitgemacht. Trotz aller Vorbereitungen ging es immer ans Limit. Jetzt zählt für mich das Ganze: der Berg und alles rundherum. Solange man mitten im Wettlauf ist, hat man wenig Zeit für diese Schönheiten.
Sie haben sieben Achttausender an der Seite von Reinhold Messner bestiegen. Welche Erinnerungen haben Sie?
Kammerlander: Er war mit Sicherheit für mich der wichtigste Partner und der ganz große Lehrmeister auf den hohen Bergen der Welt.
Hat er Sie inspiriert, dem Wettlauf den Rücken zu kehren?
Kammerlander: Nein, ganz im Gegenteil. Ich bin an seiner Seite in diesen Wettlauf hineingeraten. Natürlich war das auch sehr spannend. Ich habe meinen eigenen Stil gefunden. Mein größter Erfolg waren die Skiabfahrten vom Mount Everest und vom Nanga Parbat. Das waren für mich Schlüsselmomente. Es ist schon stark, wenn man die beiden Hobbys seiner Jugendzeit, Skifahren und Klettern, auf den höchsten Bergen der Welt kombinieren kann.
Wie haben Sie sich auf die Abfahrt vorbereitet?
Kammerlander: Vorbereitet habe ich mich auf Skiern in den Steilwänden der Dolomiten. Doch die wichtigste Vorbereitung für so einen hohen Berg ist das Konditionstraining. Wir sind immer ohne Sauerstoff gegangen.
Als Sie im Mai 1996 oben waren, haben Sie fünf Tage lang auf gutes Wetter gewartet. Spielt man da mit dem Gedanken, das Ganze abzubrechen?
Kammerlander: Nein, wenn man mit diesem Gedanken spielt, ist man fehl am Platz. Ich musste nur den richtigen Augenblick abwarten und durfte nichts Unüberlegtes tun.
Hatten Sie keine Angst?
Kammerlander: Nein. In diesem Fall hätte ich es nicht probiert. Vielmehr habe ich dem Augenblick, als es endlich losging, entgegengefiebert. Wenn man Angst vorm Aufbruch hat, darf man nicht aufbrechen.
Woran haben Sie den perfekten Zeitpunkt für die Abfahrt festgemacht?
Kammerlander: Ich habe alles dem Zufall überlassen. Mein Motto ist aufbrechen und dann flexibel reagieren. Sich vorher einen Plan zurechtzulegen, ist falsch. Ein Konzept, wie man es am liebsten machen würde, sollte man haben. Danach muss man sich flexibel an die Bedingungen des Berges anpassen. Das ist der Schlüssel zum Erfolg. Im schlimmsten Fall muss man bereit sein, umzukehren.
Sie haben nach 16 Stunden und 40 Minuten den Gipfel erreicht. Anschließend wollten Sie ja noch auf Skiern hinab. Wie war das, als Sie oben standen?
Kammerlander: Wenn du oben stehst, die Steigeisen mit den spitzen Zacken ausziehst, die dir sicheren Halt geben, und die glatten Skier anschnallst und in die Tiefe schaust, sind das pure Schlüsselmomente. Der Bereich des Gipfels hatte 55 Grad Steigung – Grad, nicht Prozent.
Das heißt, eine falsche Bewegung . . .
Kammerlander: Zahnschmerzen hat man dann sicher keine mehr.
Wie lief die Abfahrt?
Kammerlander: Es tauchen immer Probleme auf, die man lösen muss: vereiste Stellen zum Beispiel. Bei der Abfahrt war ich sechs Stunden unterwegs: überraschend schnell. In weniger als 24 Stunden war mein Traum Wirklichkeit.
Sie haben einen Handschuh verloren . . .
Kammerlander: Ja, das kann beim Herumhantieren passieren. Ich musste aufpassen. Eine Hand ist in der eisigen Kälte schnell erfroren.
Wo liegt die Grenze zwischen Angst und Leichtsinn?
Kammerlander: Mit Leichtsinn hatte das nichts zu tun. Mit Angst auch nicht. Einfach nur mit extremer Konzentration.
Wie lernt man diese Konzentration?
Kammerlander: Wichtig ist, dass man erst losgeht, wenn man gut vorbereitet und sicher ist.
Sind Sie noch Extrembergsteiger?
Kammerlander: Ich bin 60 Jahre alt und habe schon zurückgefahren. Meine Erfahrung ist Gold wert, aber meine Kräfte werden nicht mehr. Jetzt kann ich Projekte anpeilen, bei denen es in erster Linie um das Abenteuer und nicht mehr um die steil überhängende Wand geht.
Von welchem Projekt sprechen Sie?
Kammerlander: Von meiner Biografie: Der Dokumentarfilm – ein Streifzug durch mein Leben – wird mich über Südtirol (meine Jugendzeit) bis hin zu einem Achttausender nach Nepal führen.
Ihre Biografie ist auch mit dem Autounfall im Jahr 2013 verknüpft, bei dem ein Mensch ums Leben kam. Wie gehen Sie heute mit der Schuld um?
Kammerlander: Ich muss damit leben und versuchen, den Weg nach vorne zu gehen – trotz aller Schlagzeilen in den Medien.
War der mediale Fall auch darauf zurückzuführen, dass Sie als Sportler für viele ein Vorbild sind?
Kammerlander: Wenn wir, die wir am Limit mit Skiern vom Everest abfahren oder ohne Seil durch die steilsten Wände klettern, zu Vorbildern gemacht werden, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Es ist brutal gefährlich. In meinen Augen sind Vorbilder diejenigen, die etwas Sinnvolles machen – nicht die Kamikaze-Typen.
Sie sehen sich als Sportler, nicht als Vorbild?
Kammerlander: Das habe ich nie getan. Ich arbeite seit 25 Jahren für Kinder in Nepal. Wir haben mit zahlreichen Sponsoren 17 Schulen, zwei Kinderheime und eine Blindenschule aufgebaut. Das sehe ich als beispielhaft für mein Leben, nicht die riskanten Aktionen am Berg.