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Würzburg
K.O. durch bloßes Feiern?
Katerstimmung nach dem Feiern gilt als normal. Doch wenn sämtliche Erinnerungen an den Abend fehlen, liegt ein böser Verdacht nahe.
K.O. durch bloßes Feiern?       -  Die Gefahr, Opfer von K.O.-Tropfen zu werden, ist gestiegen, die Dunkelziffer hoch, bestätigen Experten.
Foto: iStockphoto | Die Gefahr, Opfer von K.O.-Tropfen zu werden, ist gestiegen, die Dunkelziffer hoch, bestätigen Experten.
Melanie Jäger
Melanie Jäger
 |  aktualisiert: 12.09.2022 15:01 Uhr

Für Christopher (18) aus Würzburg ist das Aufwachen nach einem Abend mit Freunden in einem Club der Stadt der Beginn eines schlechten Traumes. Das Letzte, an das sich der Student erinnern kann, ist ein Unwohlsein, wegen dem er nach draußen auf die Straße geht, um frische Luft zu schnappen. Und dann ist es schon später Vormittag. Christopher liegt in seinem Bett, schaut verwirrt auf sein Handy, kann sich an nichts erinnern. Sein Zustand, so erfährt er später, ist symptomatisch für einen bestimmten Verdacht: Komatöser Schlaf, Filmriss über viele Stunden, Brechreiz, Muskelzucken, Schläfrigkeit, Schwindel, starke Kopfschmerzen, Weinkrämpfe. Hat der Student K.O.-Tropfen in sein Glas geträufelt bekommen? "Da war keine Erinnerung mehr. Gar nichts. Nichts! Das war so grausam!", erzählt er nun gegenüber dieser Redaktion. Wie ist er nach Hause gekommen? Wer hat ihn ins Bett verfrachtet? Was ist passiert in der Zeit ab 23 Uhr? 

Ein Filmriss nach übermäßigem Alkoholkonsum ist keine Seltenheit. Doch schnell wird klar: Christopher hat bis zu seinem Zusammenbruch ein Bier und einen halben Cocktail getrunken. Dass das bei dem großgewachsenen, sportlichen Studenten zu einem solch massiven Blackout über Stunden geführt haben soll, ist nur schwer vorstellbar. Weil ihm im Club in der Stadt plötzlich übel wird und er sich benommen fühlt, geht Christopher an die frische Luft. Als er nicht wiederkommt, suchen ihn die Freunde und finden ihn in desolatem Zustand mitten auf einem Bürgersteig sitzend, bringen ihn heim. Christopher weiß davon nichts mehr. War er vorübergehend bewusstlos?

Missbrauchsfälle durch K.O.-Tropfen

Die farb- und geruchlosen Tropfen wirken in niedriger Dosis wie Alkohol, euphorisierend, angstlösend, stimulierend. In höheren Dosen machen sie benommen, müde, wirken narkotisierend. In hoher Dosis kann die Substanz zu Bewusstlosigkeit führen und lebensgefährlich werden. Die Gefahr, Opfer von K.O.-Tropfen zu werden, ist gestiegen, die Dunkelziffer hoch, bestätigen Experten. Beim Landeskriminalamt (LKA) in Bayern liegen keine statistischen Zahlen vor. "Eine separate Auswertung von Delikten unter Zuhilfenahme von K.O.-Tropfen ist nur mit einem erheblichen personellen und zeitlichen Aufwand möglich", so Sprecherin Julia Spießel. Beim LKA in Baden-Württemberg spricht man hingegen offen von jährlich hunderten Missbrauchsfällen durch K.O-Tropfen. Die Polizei untersucht Delikte wie Körperverletzung oder Vergewaltigung. Erst bei Verdacht auf K.O.-Tropfen werden weitere Untersuchungen eingeleitet.  Die farb- und geruchlosen Tropfen gelten inzwischen gemeinhin als Vergewaltigungsdroge.

Allerdings gibt es nur wenige nachgewiesene Fälle, denn die Substanzen sind nur wenige Stunden im Körper nachweisbar. Bis ein Verdacht aufkommt und sich erhärtet, ist es oft schon zu spät. "In den letzten drei Jahren war die Zahl der Anzeigen jeweils einstellig", sagt Philipp Hümmer, Sprecher des Polizeipräsidiums Unterfranken. Über die Höhe der Dunkelziffer könne nur spekuliert werden. "Auch  wenn in den verschiedenen Fällen kein Nachweis von K.O.-Tropfen in Blut oder Urin gelungen ist, glauben wir, dass es das Phänomen gibt." 

Das Erlebte ist zu schrecklich

Elisabeth Kirchner vom Würzburger Verein Wildwasser, der sich gegen sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen einsetzt, weiß von drei Fällen in der Region im Jahr 2016 und vier Fällen 2017, bei denen die Verabreichung von K.O-Tropfen benannt wurde. "Allerdings gibt es auch Mädchen oder Frauen, die sich unsicher sind, weil sie beim Ausgehen Alkohol und Drogen konsumiert haben und nicht sicher sind, ob auch K.O.-Tropfen im Spiel waren als Ursache für Erinnerungslücken und komische Zustände."Auch ohne K.O-Tropfen, so Kirchner, seien nach Gewalterfahrungen Amnesien, also Filmrisse, möglich, weil dies eine Folge der Gewalterfahrung sein könne. "Das Erlebte ist zu schrecklich und wird abgespalten, der Zugang zu den Erlebnissen ist versperrt, man weiß nicht, was passiert ist."

"Die Betroffenen wissen einfach nicht, was ihnen möglicherweise angetan worden ist."  
Elisabeth Kirchner, Verein Wildwasser gegen sexuelle Gewalt   

Ein Filmriss sei grundsätzlich immer furchtbar. "Die Betroffenen wissen einfach nicht, was ihnen möglicherweise angetan worden ist", so die Expertin. Morgens aufzuwachen oder zu sich zu kommen mit zerrissenen Kleidern oder Verletzungen, die man sich nicht erklären kann. "Das Wissen ist quälend, dass da etwas Intimes, Beschämendes, Schmerzhaftes passiert ist, was ich bestimmt nicht wollte und ich kann mich nicht daran erinnern." Manche Mädchen oder Frauen grübelten und suchten manchmal Wochen oder Monate nach einer Erklärung. Hinzu komme die Angst. Je nachdem, ob sie den Täter kennen oder es eine Zufallsbekanntschaft war, stelle sich die Frage: Wird er es wieder tun? Wird er mich wiederfinden? Wer war dabei und hat es gesehen, mitbekommen, vielleicht nicht geholfen? Die Betroffenen leiden unter den Folgen der Gewalt – ohne überhaupt zu wissen, was an Gewalt passiert ist: Alpträume, Ekelgefühle, Angst rauszugehen, Zweifel, ob man spinnt, Lernschwierigkeiten, Konzentrationsschwächen bei der Arbeit.  Dazu, so Kirchner, kämen Vorwürfe von Freunden: Warum hast Du auch nicht auf Dein Glas aufgepasst?

Auch Student Christopher aus Würzburg hatte sein Cocktailglas in dem Club unbeaufsichtigt gelassen. Ein großer Fehler, sagen er und seine Freunde nun im Gespräch mit dieser Redaktion. Sie würden, so Paula und Lena, beide 19, grundsätzlich ihr Getränk mitnehmen, auch auf die Tanzfläche. Mehr noch, sie halten ihr Glas so, dass es von der Hand komplett bedeckt wird, nur der  Strohhalm schaut heraus. Wer auf Toilette geht, übergibt sein Getränk zum Aufpassen an die beste Freundin. Das Misstrauen ist allgemein gewachsen, erzählen sie, leider auch gegenüber Bekannten und sogar guten Kumpels. Dass das durchaus berechtigt ist, zeigen die Erfahrungsberichte von Wildwasser: 2014 seien über zwanzig Prozent der Vergewaltigungen von genau jenen "guten Kumpels" begangen worden.  

Auch Männer werden Opfer

Opfer von K.O.-Tropfen können auch Männer werden, heißt es beim Opferverband Weißer Ring. Wenn auch mit einem klaren Unterschied im Motiv der Täter. Männer würden betäubt, um sie leichter ausrauben zu können, bei Frauen gehe es den Tätern fast immer um Sex. Der Weiße Ring empfiehlt bei Verdacht auf K.O.-Tropfen, wenn möglich, direkt in die Notaufnahme, besser noch direkt zur Rechtsmedizin einer Klinik zu gehen, denn die Substanz sei häufig nur sechs bis acht Stunden in Urin und Blut nachweisbar. Nur bei einem geringen Teil der Verdachtsfälle erfolge eine gezielte, toxikologische Untersuchung. Das Polizeipräsidium Unterfranken weiß um die Dringlichkeit in solchen Fällen. Ein Zeitverzug durch eine Anzeigenerstattung sei entsprechend gering, heißt es dort. "Eine bei einem praktischen Arzt oder Krankenhausarzt wegen des Verdachts von K.O.-Tropfen entnommenen Blut- oder Urinprobe wird durch die Polizei auf jeden Fall untersucht", so Sprecher Philipp Hümmer.

Bernward Babel, Forensischer Toxikologe am Institut für Rechtsmedizin der Uni Würzburg, bestätigt dass K.O.-Tropfen von den Fallzahlen her kein großes Thema  im Institut seien. "Das soll natürlich nicht heißen, dass es diese Fälle nicht gibt", so Babel. Er lerne eben nur die Fälle kennen, die zu ihm kämen. Und da erlebe er auch, dass junge Menschen mit sehr hohem Promillewert auftauchten, die ihren Zustand mit K.O.-Tropfen erklären wollten. Und der Verdacht sich dann nicht bestätige. Je nach Mittel und Dosis, so Babel, seien K.O.-Tropfen zwischen 6 und 24 Stunden nachweisbar. "Man darf hier auch nicht vergessen, dass diese Substanzen auch freiwillig genommen werden."

Tatbestand: Schwere Körperverletzung 

Christopher versucht noch immer mit Hilfe der Freunde und der Familie den Abend und die Nacht zu rekonstruieren. Eine Blutprobe hat er nicht nehmen lassen, dazu sei es 18 Stunden nach dem mutmaßlichen Vorfall viel zu spät gewesen. Noch immer überkommen Christopher Panik und Verzweiflung. "Der Gedanke daran, dass ich so komplett orientierungslos war und daran, was hätte passieren können, wenn mich niemand gefunden hätte, macht mich immer noch total fertig", erzählt er. Niemals hätte er gedacht, wie belastend ein Blackout sein könnte. Warum er in diese Situation geraten ist, lässt sich nicht mehr klären. "Vielleicht wollte sich jemand einen Spaß machen", vermutet er. Und: Die Substanzen könne man sich ja problemlos im Internet bestellen.

Dass es sich jedoch strafrechtlich ganz und gar um kein harmloses Vergehen handelt, macht das Bayerische Landeskriminalamt klar, das auf eine konsequente Strafverfolgung entsprechender Delikte setzt. "Bei heimlichem Verabreichen dieser gesundheitsschädlichen Substanzen liegt eine das Leben gefährdende Behandlung vor." Damit könne der Straftatbestand der gefährlichen Körperverletzung erfüllt sein, gegebenenfalls mit Todesfolge. Die K.O.-Tropfen-Substanz Gamma-Hydroxy-Buttersäure (GHB) ist als Betäubungsmittel eingestuft, außerhalb des medizinisch zugelassenen Bereiches, so das LKA, sei der Umgang damit für die Allgemeinheit verboten. Allerdings unterliege eine zweite Substanz, Gamma-Butyrolacton (GBL), auf Wunsch des Gesetzgebers wegen der großen Bedeutung von GBL in der Industrie nicht dem Betäubungsmittelgesetz.          

Für Christopher und seine Freunde steht fest: Nie wieder ein Getränk unbeaufsichtigt irgendwo stehen lassen. Ob in der Disco, auf dem Weinfest oder bei privaten Feten: Vorsicht ist angesagt. "Man muss ja jetzt keine Panik machen, aber es ist wichtig, dass man Bescheid weiß."      

Wie schütze ich mich vor K.O.-Tropfen?

  • Getränke selbst bestellen und annehmen 
  • Von Unbekannten keine offenen Getränke annehmen  
  • Offene Getränke nicht unbeaufsichtigt lassen  
  • Bei unerklärlicher Benommenheit und Übelkeit Hilfe beim Personal suchen 
  • Mit Freundinnen und Freunden aufeinander achten 
  • Bei motorischen oder psychischen Auffälligkeiten holen Freunde im Ernstfall den Notarzt und verständigen das Personal
  • Bei ersten Anzeichen auf K.O.-Tropfen auf keinen Fall alleine bleiben, um mögliche Täter fernzuhalten 
  • Sofort zum Arzt gehen, denn die Substanzen sind schon nach wenigen Stunden nicht mehr nachweisbar 
  • Anzeige erstatten, um Täter zu ermitteln und mögliche weitere Opfer zu schützen   
 
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