Er ist wohl der unbekannteste unter den unbekannten Würzburger Künstlern. Selbst Musik-, Literatur- oder Würzburger Geschichtsexperten runzeln oft ratlos die Stirn, wenn sie mit dem Namen Jules Siber konfrontiert werden. Vor gut 100 Jahren galt jener Jules Siber als Star des virtuosen Geigenspiels, machte sich aber auch als Buchautor von sechs Romanen einen Namen und ist dennoch heute in Würzburg, wo er aufwuchs und auch begraben ist, völlig vergessen. Am 24. Mai jährt sich sein Todestag zum 75. Mal.
Paganini und Hausdämon Würzburgs
Er muss schon ein recht seltsamer und außergewöhnlicher Mensch gewesen sein, dieser Siber. Beschreibungen von Zeitgenossen wie des Würzburger Schriftstellers Anton Dörfler (1890-1981) legen dies nahe: „Weniger auffällig schlich sich, zu Boden starrend und fast körperlosen Schrittes der Paganini und Hausdämon Würzburgs, Jules Siber, durch die Menge. den Geigenkasten unter die Schulter gezwängt, ein wenig wie suchend nach vorne gebeugt, verschwand er, wie er gekommen war, und die Braven, zwischen denen er gleichsam hindurchgeschlüpft war, sahen sich an, als müssten sie jetzt den Geschmack von Schwefel bemerken.“
Und der Maler Heiner Dikreiter (1893-1966), der später die Städtische Galerie gründete, beschrieb ihn als „charakteristischen Musikerkopf mit den wirren, in die Stirn hängenden Haarsträhnen und der langen, leicht überhängenden Nase, dem schmallippigen Mund und den hochgezogenen Augenbrauen. Ein Sonderling war er, ein Einzelgänger, der dem behäbigen Bürger immer einen leisen Schreck einjagte.“
Aber nun zu den Fakten wie sie Ralph Philipp Ziegler, der Leiter des Offenbacher Kulturamtes, in den vergangenen Jahren anhand zahlreicher, vielfach bisher nicht bekannter Quellen zusammengetragen hat und sie im nächsten Jahr als Siber-Biografie veröffentlichen will. Vor kurzem sprach er vor Studierenden der Musikpädagogik in Würzburg über Siber und sein Buchprojekt.
Erster Auftritt mit 13 Jahren
Geboren ist Julius Thomas Philipp Siber am 30. Oktober 1871 in Dettelbach als Sohn eines Arztes. Einige Jahre später ließ sich die Familie dauerhaft in Würzburg nieder. Im Alter von fünf Jahren hörte Jules Siber erstmals von dem Wundergeiger Paganini und baute sich selbst eine kleine Holzgeige, um ihm nachzueifern. 1877 fing er an im Selbststudium, Geige zu lernen und mit 13 Jahren hatte er seinen ersten öffentlichen Auftritt als Solist mit dem Orchester der Musikschule Würzburg. Ein klassisches Studium im Geigenspiel hatte Siber nur zwei Jahre lang, als er längst als Solist reiste, er ließ sich aber von verschiedenen Kollegen beraten und entwickelte schon bald eigene Lernmethoden.
Hochintelligent und kreativ
1889 machte Siber sein Abitur am Neuen Gymnasium und begann anschließend ein Jurastudium. Er sah das nicht als seine Berufung an, schließlich war sein Berufswunsch, Musiker zu werden. Er beugte sich aber dem Druck der Familie, einen „richtigen“ Beruf zu erlernen. In Sibers universitärer Personalakte fand Ziegler den Hinweis, dass der Schüler „hochintelligent und kreativ“ sei und sich auch gerne mit den Lehrern auseinandersetzte.
Max Reger als Klavierbegleiter
1893 schloss Siber sein Jurastudium ab, und trieb in Bad Kissingen Musikstudien bei Cyrill Kistner, einem Komponisten und Autor. Siber gab zu dieser Zeit Konzerte, schrieb Erzählungen und Literaturkritiken für Zeitschriften und war in der Musikszene sehr präsent. Zwischenzeitlich war er auch drei Jahre lang als Sekretär am Amtsgericht Freyung tätig, wobei er sich aber überhaupt nicht wohl fühlte. 1903 wurde er im Alter von 32 Jahren zeitweise pensioniert, weil er seelisch angeschlagen war. 1904 begann er schließlich ein zweijähriges Studium an der Königlichen Musikakademie in München. Einer seiner Lehrer dort war Max Reger, der Siber auch bei Konzerten am Klavier begleitete. Etwa ab 1900 trat der Virtuose mit ins Französische gewendetem Vornamen Jules Siber auf.
Neben-Paganini-Kompositionen war das bekannteste Stück in seinem Repertoire der von ihm komponierte „Hexentanz“ für Solo-Violine. Siber erzählte zu der Komposition, dass er das Phantom eines schönen jungen Mannes erblickt habe, das ihm aber immer entwichen sei. Das Stück sei der Schrei eines Mannes, der die Gottlosigkeit der Welt erfahren hat, an den Teufel, mit der Bitte ihn zu retten. Darin wird zum einen Sibers Homosexualität thematisiert, zum anderen aber auch sein Hang zum Okkultismus.
Konzertsaal und Kneipe
Ab 1906 zog der virtuose und viel bejubelte Geiger durch die Lande, spielte in großen Konzerthäusern ebenso wie in kleinen Wirtschaften. Er war wohl, glaubt man Rezensionen, ein unglaublicher Techniker und Virtuose auf seinem Instrument. Tonaufnahmen von Siber, die das beweisen könnten, existieren nach heutigen Erkenntnissen nicht. Auch wenn seine Intonation wohl nicht immer ganz perfekt war, so ist es ihm offenbar gelungen, seine Zuhörer durch seine Emotionen und Ideen in den Bann zu ziehen, erläuterte Ziegler vor den Studenten. Siber habe bei der Kritik ein ambivalentes Echo erzeugt, seine Zuhörer allerdings in echte Begeisterung versetzt.
Erster Roman „Seelenwanderung“
Schließlich zog Siber nach Berlin und erlebte dort eine große Zeit als Autor und Musiker. Er bekam und pflegte intensive Kontakte zur okkultistischen Szene. Das führte dazu, dass bei seinen Konzerten auch schon einmal ein Hypnotiseur mit auf der Bühne stand. 1914 erschien sein erster Roman „Seelenwanderung“. 1922 veröffentlichte Siber mit „Inkubus“ einen okkulten Roman, der zur Zeit der Hexenverfolgung in Würzburg spielt.
Um 1914 begann sein Engagement in der Homosexuellen-Lobby, das er bis zum Beginn des Nationalsozialismus fortführte. Allerdings war er während des Naziregimes als eher links eingestellter und homosexueller Künstler überraschenderweise anscheinend keinen nennenswerten Repressalien ausgesetzt, berichtete Ziegler. Siber hatte in den 1920er-Jahren Kontakt zu vielen wichtigen Autoren und zu Mitgliedern der magisch-okkultistischen Szene. Beinahe wäre es in Berlin auch zu einer Begegnung Sibers mit dem seinerzeit berühmtesten Okkultisten Aleister Crowley gekommen. Doch weil sich in der Runde der eingeladenen Gäste eine Person befand, mit der Siber nicht auskam, verweigerte er seine Teilnahme.
Letztes Konzert in Berlin
Anfang der 1930er-Jahre sank Sibers Stern dann langsam. Während in den 20er-Jahren eine große Neugier auf Neues herrschte, ließ dies jetzt nach und Sibers Ruhm verblasste. In den 1930-er Jahren hielt er sich immer wieder in Würzburg auf und 1941 gab er sein letztes wichtiges Konzert im Meistersaal in Berlin. Am 24. Mai 1943 ist Jules Siber in Berlin gestorben. Beigesetzt ist er am Würzburger Hauptfriedhof im Grab seiner Familie.